„Wie soll ich das verstehen?“
23. Mai 2014
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Der Beitrag ist eine leicht überarbeitete Version der Abschiedsvorlesung, die der Autor am 02.02.2011 gehalten hat. Die eingebundenen Audiobeispiele können einzeln angehört werden und stehen alternativ in einem komprimierten Archiv als Download zur Verfügung.
Inhaltsverzeichnis
1. Verständnis der Satzbedeutung
2. Anknüpfung an den Diskurs
3. Satzmodus und Intonation
4. Literatur
1. Verständnis der Satzbedeutung
<1>
Sätze verstehen wir gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Nehmen wir ein Beispiel, in dem die Betonung durch Großschreibung der betonten Silbe markiert wird:
(1) Gestern hat Paul Maria BLUmen geschenkt.
Hier verstehen wir folgendes:
- Die Situationsbeschreibung: Es handelt sich um eine Situation, die in einer Relation zwischen den drei Elementen besteht, welche von der Handlung „schenken“ betroffen sind: das Verb schenken stellt eine Relation her, in der Paul das Agens, Maria die Empfängerin und Blumen das Objekt darstellen, das verschenkt wird.
- Die Verankerung der Situationsbeschreibung im Diskurs (die Situationsreferenz): Durch das finite Hilfsverb hat und durch das vorangestellte gestern wird klar, dass der Sprecher sich auf eine Situation bezieht, die relativ zum Äußerungszeitpunkt am Vortage stattfand.
- Eine bestimmte Informationsgliederung, in der offenbar eine Auswahl aus verschiedenen möglichen Alternativen hervorgehoben wird, und zwar dass Paul Maria BLUMEN geschenkt hat und nicht irgendetwas anderes.
- Der Bezug zu einer (möglichen) Welt (der Satzmodus): Der Satz drückt durch die Besetzung des Vorfeldes (gestern) und das finite Verb in der zweiten Position (V2 = hat) aus, dass die Situation als in der Vergangenheit gegeben anzusehen ist, dass der Satz also WAHR ist. Demgegenüber könnte man z.B. auch einen Wunsch äußern (Hätte Paul doch Maria Blumen geschenkt), bei dem es sich nicht um eine gegebene Situation, sondern um eine erst herbeizuführende (in einer anderen, möglichen Welt) handelt.
- Darüber hinaus gibt es noch weitere Interpretationen, etwa, wenn meine Frau diesen Satz benutzt, um mir nahe zu legen, ihr doch auch etwas zu schenken etc. Dies gehört aber nicht zur Bedeutung des Satzes im engeren Sinne, sondern zu seiner Verwendung. Damit befasst sich die sog. Pragmatik; ich werde im Folgenden darauf nicht näher eingehen.
<2>
Ich möchte nun zeigen, auf welche Weise uns das in 1. – 4. kurz charakterisierte Verständnis der Satzbedeutung gelingt. Einen „Unsinnssatz“ wie (2) „verstehen“ wir auf ähnliche Weise wie (1), d.h. es muss etwas geben, das über die Bedeutung der einzelnen Wörter, deren Bedeutung wir in (2) nicht kennen, hinausgeht.
(2) Gestern hat der Brock dem Plapp Wirsen gekrokt.
<3>
Man muss vermuten, dass wir diesen Satz aufgrund der Beziehung zwischen den Wörtern, d.h. aufgrund seiner syntaktischen Struktur „verstehen“. Das ist es, was das sog. Kompositionalitätsprinzip erfasst:
(3) Prinzip der Kompositionalität von Bedeutung (Frege-Prinzip):
Die Bedeutung komplexer Ausdrücke (z.B. von Sätzen) ergibt sich (d.h.: lässt sich berechnen) aus den Bedeutungen der in ihnen enthaltenen einfachen Ausdrücke (z.B. der Wörter) und der Art ihrer Zusammensetzung (d.h. ihrer syntaktischen Struktur).
<4>
Die folgende Strukturbeschreibung gibt eine erste syntaktische Analyse, aus der sich die verschiedenen Bedeutungsaspekte ergeben:
(4) Strukturbeschreibung: Eine erste Analyse
(Abb. 1)
Die drei Teilbedeutungen (Situationsbeschreibung, Situationsreferenz, Sprechereinstellung) werden in drei verschiedenen strukturellen „Schalen“ (wie bei einer Zwiebel) erfasst, die hierarchisch geordnet sind. CP bedeutet dabei „complementizer phrase“ und dient zur Ermittlung des Satzmodus, TP bedeutet „Temporalphrase“ und stellt den Situationsbezug her, VP bezeichnet die „Verbalphrase“, die die Situationsbeschreibung im engeren Sinn enthält.
<5>
Wie das jeweils in Übereinstimmung mit dem Kompositionalitätsprinzip berechnet wird, möchte ich nun etwas detaillierter zeigen. Das nächste Schaubild (5) gibt (in etwas vereinfachter Form) wieder, wie man sich die syntaktische Struktur der VP vorstellt:
(5) Eine mentale syntaktische Struktur
(Abb. 2)
Die verschiedenen semantischen Rollen (Agens, Empfänger, Thema), die das Verb den syntaktischen Argumenten (Subjekt, indirektes Objekt und direktes Objekt) jeweils zuweist, ergeben sich aus ihrer jeweiligen strukturellen Position: das direkte Objekt (deshalb heißt es so) steht direkt neben dem Verb und bildet mit diesem zusammen eine syntaktische Einheit (eine Konstituente, ein Satzglied). Dazu kommt das indirekte Objekt, das mit der soeben gebildeten Konstituente wiederum eine Einheit bildet, und schließlich wird als oberstes Argument das Subjekt hinzugefügt. Der Strukturbaum (und entsprechend die Klammerung) drücken diese Verhältnisse aus. Beim Sprechen oder in der Schrift drücken wir allerdings diese (hierarchischen) Relationen nicht aus! Es handelt sich also um eine rein mentale Struktur, die wir in der realen Äußerung nicht wieder finden; wir müssen sie mental erstellen, und die Kenntnis einer Sprache bedeutet nichts anderes, als dass wir dazu in der Lage sind, aus der rein linearen Abfolge der Laute (oder dem linearen Schriftbild) diese hierarchische Strukturierung zu erschließen. Und genau diese Struktur ist es, die den Sätzen (1) und (2) gemeinsam ist.
< 6 >
Die semantischen Berechnungen, die dazu erforderlich sind, aus dieser Struktur die Situationsbeschreibung zu ermitteln, kann man auch mit Hilfe der logischen Semantik darstellen. Eine (wiederum etwas vereinfachte) Illustration bietet die folgende Abbildung (6). Dabei wird die VP (Paul Maria Bücher schenken) aufgebaut, indem jeweils die Wörter (mit den dazugehörigen logisch-semantischen Repräsentationen) durch (manchmal mehrfach anzuwendende) sog. Lambda-Konversion miteinander zu größeren Satzgliedern verbunden werden. Ich notiere das hier von oben nach unten; – in (5) ist das von unten nach oben zu lesen, aber es ist an sich egal, wie man sich die Ableitung denkt, von unten nach oben oder umgekehrt.
(6) Lambda-Konversion von VP „Paul Maria Bücher schenken“
(Abb. 3)
Zunächst verbinden wir das direkte Objekt Bücher ( = (λS (∃w(Bücher(w) ∧ S(w)))) ) mit dem Verb schenken ( = (λQ (λR (λz R (λy Q (λx schenken(x)) (y)) (z)) ) und erhalten nach (mehrfacher) λ-Konversion den Ausdruck Bücher schenken ( = λR λz R λy ∃ w (Bücher(w) ∧ schenken(w))(y)(z) ).
Diesen Ausdruck verbinden wir nun mit dem indirekten Objekt Maria ( = λM (M(Maria) ) und erhalten (nach mehrfacher λ-Konversion) den Ausdruck Maria Bücher schenken (= (λz (∃ w Bücher(w) ∧ ((schenken(w))(Maria))(z)) ). Diesen Ausdruck können wir nun mit dem Subjekt Paul ( = λP(P(Paul) ) zur gesamten VP Paul Maria Bücher schenken verbinden:
(∃ w Bücher(w) ∧ ((schenken(w))(Maria))(Paul))).
Wie das im Einzelnen funktioniert, kann ich allerdings an dieser Stelle nicht ausführen (vgl. H. Lohnstein 1996, neu 2011).
< 7 >
Die Prinzipien, nach denen sich die syntaktische Struktur in (5) (und auch die semantische Struktur in (6)) ergeben, sind allerdings denkbar einfach:
(7) Prinzipien der Verknüpfung (engl.: merge):
– nimm zwei (Binarität)
– mach’s noch mal (Rekursivität)
Mithilfe dieser zwei Prinzipien lassen sich beliebig viele hierarchische syntaktische Strukturen aufbauen. Die binäre und hierarchische Struktur, die sich daraus ergibt, garantiert dabei, dass man die einzelnen Argumente eindeutig unterscheiden kann!
<8>
Dass diese Struktur aber nicht nur aus theoretischen Gründen postuliert wird, sondern dass sie auch tatsächlich (mental) so existiert, kann man durch verschiedene Tests zeigen, z.B. dadurch, dass man die sich jeweils ergebenden syntaktischen Einheiten (Konstituenten) im Vorfeld deutscher Sätze (also vor dem finiten Verb wollte in der zweiten Position) antreffen kann, nicht aber Sequenzen (Maria schenken in (8.c)), die keine Konstituenten bilden:
(8.a) [Blumen schenken] wollte Paul Maria schon immer.
(8.b) [Maria Blumen schenken] wollte Paul schon immer.
(8.c) *Maria schenken wollte Paul schon immer Blumen.
Das Sternchen (der Asterisk) vor dem Beispielsatz (8.c) deutet dabei an, dass es sich um einen Satz handelt, den wir nicht als „wohlgeformt“ ansehen: wir merken, dass irgendetwas an ihm deutlich „falsch“ ist: man sagt, dieser Satz sei „ungrammatisch“. Dass wir das als ein irgendwie komisches Gefühl spüren, kann man übrigens mit den Mitteln der Neurolinguistik nachweisen. Hirnstrommessungen während der Sprachverarbeitung zeigen ein Muster, das sich deutlich von dem Muster bei „normaler“ Sprachverarbeitung unterscheidet.
(Übrigens sieht man an diesen Sätzen auch, dass die Schulweisheit, deutsche Sätze bauten sich aus Subjekt und Prädikat (in dieser Reihenfolge) auf, schlicht falsch ist: Sie haben ein sog. Vorfeld (in dem genau ein Satzglied stehen kann; das muss nicht immer das Subjekt sein), darauf folgt das finite Verb (oft ein Hilfsverb wie in den Beispielsätzen) und dann erst folgt der Rest des Satzes, das sog. Mittelfeld. Diese Einsicht geht auf Drach (1937) zurück.
2. Anknüpfung an den Diskurs
< 9 >
Kommen wir nun zur zweiten Ebene des Verständnisses, der Anknüpfung an den Diskurs. Hier ist die wesentliche Erkenntnis, dass in deutschen Sätzen eine Zweiteilung zwischen alter, bekannter Information und neu hinzukommender Information vorliegen kann. Diese Informationsstruktur wird also syntaktisch ausgedrückt und lässt sich folglich im Einklang mit dem Kompositionalitätsprinzip (3) berechnen. Man kann das in der vereinfachten Beschreibung (9) sehen, in der ich auf die hierarchische Gliederung verzichtet habe.
(9) Beziehung zum Diskurs
(Abb. 4)
Die kleine Partikel ja steht hier genau zwischen dem „Hintergrund“ und dem Teil, in dem der „Fokus“ ausgedrückt wird. Paul, Maria und gestern sind in gewissem Sinne als gegeben oder bekannt anzusehen, während Blumen schenken als die neu hinzukommende Information angesehen werden muss. Der Fokus wird dabei durch die Betonung ausgedrückt und so interpretiert, dass entsprechende Alternativen an dieser Stelle ausgeschlossen werden. Die sog. „Alternativensemantik“ (vgl. Lohnstein 2011, Kap. 15) befasst sich mit diesen Verhältnissen.
< 10 >
Dass diese Deutung richtig ist, bestätigt sich durch die Stellung der Personalpronomina, die im Deutschen immer „vorne“ im Satz stehen, da sie sich ja auf alte, bekannte Information beziehen:
(10) Wortstellung und Fokus
(Abb. 5)
Die gesternten Sätze sind deshalb als ungrammatisch zu bewerten, weil hier ein Personalpronomen hinter der Partikel steht, also fälschlich als Hintergrundinformation im Fokusbereich. Wenn das Pronomen aber betont wird wie im letzten Satz, dann wird es sozusagen „zeigend“ (deiktisch) verwendet und verweist auf eine neu in den Diskurs einzuführende Person.
< 11 >
Nun hat das Deutsche ein sogenannte „(relativ) freie Wortstellung“. Wie die folgenden Beispiele zeigen, lassen sich die Satzglieder im Deutschen (fast) beliebig umstellen, wenn dabei (wie durch die Betonung angedeutet) der Fokus möglichst rechts stehen bleibt.
(11.a) Gestern hat Paul Maria die BLUmen geschenkt.
(11.b) Gestern hat Paul die Blumen MaRIA geschenkt.
(11.c) Gestern hat die Blumen der PAUL der Maria geschenkt.
(11.d) Gestern hat der Maria die Blumen der PAUL geschenkt.
Man nennt dieses Phänomen „scrambling“, weil man sich ursprünglich vorstellte, dass die Satzglieder in einer „flachen“ Struktur sozusagen „verquirlt“ werden wie bei einem Rührei (scrambled eggs). Man nahm also an, dass nur Sprachen mit einer festen Wortstellung (wie z.B. das Englische) eine steile, hierarchische („konfigurationelle“) Struktur aufweisen, während eine freie Wortstellung für eine „flache“ Struktur spräche.
(12) Scrambling
Nun lässt aber zeigen, dass die Idee einer flachen Struktur nicht zutreffen kann, so dass man auch in Sprachen mit freier Wortstellung eine hierarchische Struktur annehmen muss.
<12>
Man kann nämlich leicht sehen, dass die Information, welches Argument Subjekt, indirektes Objekt bzw. direktes Objekt ist, in einer flachen Struktur nur durch die lineare Abfolge gegeben ist und durch Scrambling zerstört wird. Das kann aber nicht sein, wenn das Prinzip der Kompositionalität (3) gelten soll. (Man kann hier auch nicht darauf ausweichen, die syntaktischen Rollen würden ja durch Kasus ausgedrückt: weder Paul, noch Maria oder Blumen kann man ja ansehen, ob es sich um Nominativ, Dativ oder Akkusativ handelt.) In einer strukturellen Analyse muss man also annehmen, dass eine Umstellung der Argumente im Mittelfeld (in (9) und (11)) als Voranstellung und als Bewegung in eine höhere Strukturebene anzusehen ist, wie das (13) andeutet:
(13) Strukturelle Analyse
(Abb. 7)
Gibt es auch Evidenz dafür, die Abfolge innerhalb der VP als „Normalabfolge“ SU IO DO anzusehen, während alle anderen Abfolgen als „Voranstellungen“ in den Bereich der Hintergrundinformation anzusehen sind?
<13>
Zunächst zeigt sich, dass die „Normalabfolge“ (Höhle 1982) bei allen Fokussierungen möglich ist:
(14.a) Gestern hat PAUL Maria Blumen geschenkt.
(14.b) Gestern hat Paul MaRIA Blumen geschenkt.
(14.c) Gestern hat Paul Maria BLUmen geschenkt.
(14.d) Gestern hat Paul Maria Blumen geSCHENKT.
(14.e) GEStern hat Paul Maria Blumen geschenkt.
(14.f) Gestern hat PAUL Maria BLUmen geschenkt.
(Wie man sieht, sind auch mehrfache Fokussierungen möglich.)
Umstellungen (der Name „Scrambling“ hat sich dabei erhalten) unterliegen jedoch bestimmten Restriktionen (Lenerz 1977). So kann ein fokussiertes Element selbstverständlich nicht in den Hintergrundbereich umgestellt werden: („don’t scramble focus!“)
(15.a) Was hat Paul gestern Maria geschenkt?
(15.b) Gestern hat Paul Maria die BLUmen geschenkt.
(15.c) *Gestern hat Paul die BLUmen Maria geschenkt.
(15.d) *Gestern hat die BLUmen Paul Maria geschenkt.
Wie die Frage (15.a) vorgibt, kann in den Antworten nur das DO (BLUmen) der Fokus sein; dieser kann aber nicht aus seiner Position hinter dem IO nach vorne gestellt werden (15.c, 15.d). Weitere Restriktionen (z.B. „don’t scramble indefinites“) sind seit Lenerz (1977) bekannt und in der Literatur häufig diskutiert worden, vgl. als neueste Arbeit dazu Struckmeier (2012).
Ein weiteres Argument für die Normalabfolge SU IO DO ergibt sich aus dem Phänomen der sog. „Fokusprojektion“ (Höhle 1982). Bei der Betonung von BLUmen kann nicht nur das DO Fokus sein; weitere Satzglieder können zum Fokus dazugehören, wie sich aus den folgenden Sätzen ergibt. Die Fragen definieren dabei einen jeweils größeren Fokus; die Unterstreichung hebt den Fokus jeweils hervor:
(16) Fokusprojektion bei der Normalabfolge:
SU IO DO V
(16.a) Was hat Paul gestern Maria geschenkt?
(Ich glaube, dass) Paul Maria BLUmen (Fokus) geschenkt hat.
(16.b) Was hat Paul für Maria gemacht?
(Ich glaube, dass) Paul Maria BLUmen geschenkt hat.
(16.c) Was hat Paul gemacht?
(Ich glaube, dass) Paul Maria BLUmen geschenkt hat.
(16.d) Was ist geschehen?
(Ich glaube, dass) Paul Maria BLUmen geschenkt hat.
Das ist aber nur möglich, wenn der Fokus sozusagen in der syntaktischen Struktur von Satzglied zu Satzglied hinauf „projiziert“ wird, und das ist nur in der „Normalabfolge“ gegeben.
(17) Fokusprojektion
Bei Umstellungen der Satzglieder gibt es folglich keine Fokusprojektion.
3. Satzmodus und Intonation
<14>
Kommen wir nun zur dritten Ebene der Interpretation, dem Satzmodus. Wir sehen uns dazu zunächst Nebensätze an, in denen der Satzmodus durch die nebensatzeinleitende Konjunktion (weil / wenn / bevor etc.) ausgedrückt wird:
(18)(i) Nebensätze: …, weil/wenn/bevor Paul gesungen hat
Der Satzmodus (kausal/konditional/temporal…) wird in Bezug auf den Matrixsatz festgelegt; bei unabhängigen Sätzen (Hauptsätzen) entscheidet der Satzmodus über die Art der Beziehung zum Diskurs)
(18)(ii) Unabhängige Sätze („Hauptsätze“):
Entscheidungsfrage: Hat Paul gesungen ____ ?
Ergänzungsfrage: Wer hat ____ gesungen ____?
Aussage: Paul hat _____ gesungen ____.
Gestern hat Paul___ gesungen ___.
Die Art und Weise, in der sich der Nebensatz auf den Hauptsatz, zu dem er gehört (seinen Matrixsatz) bezieht, wird (also als kausal, konditional oder temporal etc.) durch die Konjunktion ausgedrückt, die in der linksperipheren Position (in der linken Satzklammer) steht.
<15>
In Hauptsätzen dagegen wird der modale Bezug zum Diskurs hergestellt, aber auch das geschieht in der linksperipheren Position, nur hier jeweils dadurch, dass das finite Verb hierhin gestellt wird. Wenn nur das finite Verb vorangestellt wird, erhalten wir Entscheidungsfragen; wird in das Vorfeld ein Satzglied mit einem sog. wh-Element (wer, welch etc.) gestellt, ergeben sich Ergänzungsfragen, und bei Voranstellung eines Satzgliedes ohne Fragewort ergeben sich Aussagesätze:
(19) Unabhängige Sätze („Hauptsätze“)
(Abb. 9)
Wir können also festhalten: Das finite Verb in der linken Satzklammer zeigt an, dass der folgende Satz direkt an den Diskurs angeknüpft wird. Wird das Vorfeld nicht besetzt, erhalten wir einen Satz, der hinsichtlich seiner Wahrheit nicht beurteilt wird. Wenn das Vorfeld besetzt ist, wird die Wahrheit der Proposition behauptet, allerdings ist bei wh-Phrasen nicht geklärt, für welche Auswahl des entsprechenden Referenten der Satz wahr sein soll (vgl. Lohnstein 2000).
<16>
Dass das finite Verb in der linken Satzklammer die Wahrheit anzeigt, zeigt sich deutlich beim sog. VERUM-Fokus (Höhle 1988, Stommel 2010). Wird nämlich das finite Verb betont, dann wird eben hervorgehoben, dass der Satz als WAHR angesehen werden soll; dabei haben solche Sätze einen gewissen „Basta!“-Charakter, d.h., dass der Sprecher qua Autorität die Wahrheit der Aussage quasi dekretiert:
(20) Nach längerem Hin und Her ist nicht klar, ob Fritz denn nun gelacht hat oder nicht, und jemand fragt: „Hat Fritz denn nun gelacht oder nicht?“ In dieser Situation kann jemand mit der entsprechenden Autorität die Wahrheit festlegen: „Ja, Fritz HAT gelacht!“
<17>
Die Satzstellung und damit der Satzmodus interagiert nun aber deutlich mit der Satzintonation, und damit kommen wir zu einem Bereich, in dem die Verhältnisse noch nicht so klar sind wie erwünscht. Sehen wir uns zunächst an, was die Linguistik derzeit über Intonation weiß. Das ist z.B. in der Duden-Grammatik so zusammengefasst:
„Eine Intonationskontur lässt sich phonologisch durch eine Folge abstrakter Töne darstellen.“ (Peters 2005, S. 95).
„Die Tonhöhenakzente H*L, H*, L*H und L* sowie die Grenztöne Lι und Hι sind im Deutschen Träger abstrakter Bedeutungsmerkmale.“ (Peters 2005, S. 105)
(H = hoher Ton, L = tiefer Ton (engl.: low); das Sternchen hinter einem Ton sagt uns, dass der Ton auf einer betonbaren Silbe steht, ι = Grenze einer sog. Intonationsphrase).
Eine differenziertere Darstellung bietet das Modell GToBI („German Tones and Break Indices“), ein Transkriptionssystem für die Intonation des Deutschen (Grice/Baumann 2002, vgl. auch http://www.gtobi.uni-koeln.de/).
Wichtig ist, dass die Intonationskonturen, sozusagen die Satzmelodien, die wir irgendwie als ganze wahrnehmen, als Folge distinkter einzelner Töne zu analysieren sind, denen jeweils eine bestimmte Bedeutung zuzuordnen ist. (Das entspricht in etwa dem Bild, das wir von Phonemen haben, die wir auch als Ganze wahrnehmen, bei denen aber die Analyse in distinktive Merkmale das Wesentliche ist.) Insofern besteht in der heutigen Linguistik Einigkeit, nicht aber darüber, was diese Töne denn nun im Einzelnen bedeuten. Im Duden finden wir die folgenden Behauptungen (Peters 2005, S.105 f.):
(21) Intonation und Bedeutung
H* = dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen, informatorisch nicht abgeschlossen
L* = nicht dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen, informatorisch nicht abgeschlossen
H* L = dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen informatorisch abgeschlossen
L* H = nicht dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen, informatorisch abgeschlossen
<18>
Diese Deutung scheint für einen Teil der Sätze im Deutschen in gewisser Weise zuzutreffen. Das möchte ich mit den folgenden Beispielen zeigen. Sie wurden von mir gesprochen und sind als Sonagramme und als Tondateien abrufbar; ich danke Martine Grice und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Institut für Linguistik – Phonetik der Universität zu Köln, besonders auch Janina Kalbertodt für ihre Hilfe bei der Erstellung und der Annotation der Audiodateien, die sich durch einen Doppelklick auf das Lautsprechersymbol öffnen lassen.
<19>
So sind Aussagesätze, die normalerweise eine fallende Intonation aufweisen (H*L), gewiss dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen und informatorisch abgeschlossen:
(Abb. 10)
Entsprechend gilt für Entscheidungsfragen, dass ihr Inhalt nicht dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen ist und dass sie informatorisch nicht abgeschlossen sind:
(Abb. 11)
Es ergeben sich aber sowohl theoretisch wie empirisch grundlegende Probleme: Zunächst ist (wie man am Beispiel der Entscheidungsfrage (23) sehen kann) unklar, was es für eine Äußerung heißen soll, dass sie „informatorisch (nicht) abgeschlossen“ ist und worin sich das von der Charakterisierung „dem gemeinsamen Wissen (nicht) hinzuzufügen“ unterscheidet. Wenn man etwa die Ergänzungsfrage (24) zum Vergleich heranzieht, dann sieht man, dass sie normalerweise mit fallender Intonation realisiert wird, obwohl es sich doch um eine Frage handelt:
(Abb. 12)
Ist eine Ergänzungsfrage also „dem gemeinsamen Wissen hinzuzufügen“? Ist sie „informatorisch abgeschlossen“? Hat sie die gleichen Eigenschaften wie ein Aussagesatz?
<20>
Hinzu kommt, dass man in dem Duden-Kapitel m.E. keine überzeugenden Beispiele für die Fälle mit jeweils nur einem Ton findet: Gibt es Sätze mit nur einem tiefen Ton ohne folgenden (hohen) Grenzton, also mit L* Ø? Oder Sätze mit einem tiefen Ton ohne folgenden Grenzton (L* Ø)? Gibt es auch die folgenden Kombinationen: H*H oder L*L ?
Hinzu kommt ein weiteres grundlegendes Problem: wenn die Satzstellung (das finite Verb in der linken Satzklammer und die Besetzung des Vorfeldes) den Satzmodus bereits kennzeichnet, wozu haben wir dann überhaupt noch die Intonation? Oder brauchen wir beides, und wenn, dann: auf welchen Bedeutungsebenen operieren die beiden Systeme?
<21>
Dazu können wir uns die folgenden Beispiele ansehen:
(Abb. 13)
Bei „Kommst du nach Sparta,…“ handelt es sich deutlich nicht um eine Entscheidungfrage, sondern um einen vorangestellten Konditionalsatz mit Verb-erst-Stellung (V1). In Intonation und Satzstellung ist er aber wohl mit einer Entscheidungsfrage identisch. Wie sollen wir seine Semantik („gesetzt den Fall es wäre wahr…“) mit der der Entscheidungsfrage in Übereinklang bringen? Woraus ergibt sich der Unterschied?
Oder nehmen wir den Fall von V1-Sätzen zur Einleitung von Witzen (mit sinkender Intonation):
(Abb. 14)
Hier ist doch wohl die Interpretation „Nimm mal folgende (fiktive) Welt an…“ anzusetzen. Wie soll man die ableiten?
<22>
Rätselhaft erscheint auch die unterschiedliche Intonation bei Reihungen von Fragen, je nachdem, ob sie mit und oder mit oder verbunden sind:
(Abb. 15)
(Abb. 16)
Oder nehmen wir sog. indirekte Aufforderungen, die wie Fragen aussehen, aber eine sinkende Intonation aufweisen müssen (29), während sie mit der „Frageintonation“ (L*H) überaus seltsam klingen:
(Abb. 17)
(Abb. 18)
<23>
Für das Englische ist vermutet worden, dass sich die Intonation u.a. darauf bezieht, wer für das Wissen um die Wahrheit einer Proposition als verantwortlich angesehen wird. So argumentiert Gunlogson (2001), dass bei fallender Intonation der Sprecher für die Wahrheit gerade stehen muss, bei steigender Intonation aber der Hörer, und sie zeigt das an den folgenden, hier ins Deutsche übertragenen Beispielen:
(Abb. 19)
(Abb. 20)
Besonders auffällig sind hier nun sog. „Echo“-Fragen wie (31), also „Fragen“, die als Aussagesätze daherkommen. Es handelt sich sozusagen um die Wiederholung einer Aussage des Gesprächspartners, deren Wahrheit vom Sprecher in Frage gezogen wird.
(Abb. 21)
Entsprechendes gilt etwa auch für die „Ricola“-Reklame, bei der ein kleiner Schweizer mehrere nur mit Handtüchern bekleidete Finnen, die gerade aus der Sauna kommen, fragt: „Wer hat’s erfunden?“. Während „normale“ Fragesätze mit einem Fragewort an erster Stelle (w-Fragen, Ergänzungsfragen) mit sinkender Intonation gestellt werden, steigt hier die Stimme, was so zu interpretieren ist, dass der Schweizer unterstellt, dass der Finne die richtige Antwort kennt!
(Abb. 22)
(Abb. 23)
<24>
Wie wir sehen, nutzen wir im Deutschen die Möglichkeiten des Spiels mit der Satzintonation systematisch. Wie man sich das im Einzelnen vorzustellen hat, zeigt Sebastian Kaiser in seiner Dissertation von 2013.
Damit möchte ich diese kurzen Ausführungen abschließen, mit denen ich zeigen wollte, welche verschiedenen Aspekte der Satzbedeutung wir unterscheiden und wie sie grammatisch in der Satzstruktur (und in der Intonation) verankert sind.
4. Literatur
Drach, Erich (1937): Grundgedanken zur deutschen Satzlehre. Frankfurt (Photomechanischer Nachdruck Darmstadt 1963).
Grice, Martine & Stefan Baumann (2002): Deutsche Intonation und GToBI. Linguistische Berichte 191. 267-298. (vgl. hierzu auch die Website: http://www.gtobi.uni-koeln.de/, Stand 01.12.2013)
Gunlogson, Christine (2001): True to Form: Rising and Falling Declaratives as Questions in English. PhD Diss. University of California, Santa Cruz.
Höhle, T. (1982): Explikation für ‘normale Betonung’ und ‘normale Wortstellung’. In: Abraham, W. (ed.): Satzglieder im Deutschen. Tübingen: Narr, 75-153.
Höhle, Tilman (1988): Verum-Fokus. Sprache und Pragmatik 5:1-7.
Kaiser, Sebastian (2014): Zur Interpretation von selbständigen Sätzen im Diskurs. Frankfurt am Main [u.A.]: Peter Lang. Zugleich Dissertation, Universität zu Köln (2013).
Lenerz, Jürgen (1977): Zur Abfolge nominaler Satzglieder im Deutschen. [Studien zur deutschen Grammatik; 5]; Tübingen: Niemeyer.
Lohnstein, Horst (2000): Satzmodus – kompositionell. Zur Parametrisierung der Modusphrase im Deutschen. [studia grammatica; 49]; Berlin: Akademie-Verlag.
Lohnstein, Horst (2011): Formale Semantik und natürliche Sprache. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Peters, Jörg (2005): Intonation. Duden. Die Grammatik, 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim, S. 95-128.
Stommel, Hildegard (2011): Verum-Fokus im Deutschen. Marburg: Tectum Verlag. Zugleich Dissertation, Universität zu Köln (2010).
Struckmeier, Volker (2012): Syntax, Semantik und Prosodie von ‚Scrambling‘-Bewegungen im Deutschen: Zur komplexen Architektur grammatischer Beschreibungen. Habilitationsschrift, Universität zu Köln.