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Panel 2: Verständliche Gesetzestexte – verschiedene Aspekte der Textarbeit

Bitte Recht verständlich! Evaluation der Gesetzesredaktion des Bundes bei der Verständlichkeitsoptimierung von Rechtsvorschriften

 

Friedemann Vogel und Joline Schmallenbach

11. November 2021

urn:nbn.de:hbz:38-538957

 


Open Access PDF-Download from USB Journals, Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik


1 Einleitung

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Wie kann die Verständlichkeit von Normtexten aus einer textpragmatischen, holistischen Perspektive modelliert und bewertet werden? Welche Annahmen und kontextuellen Rahmenbedingungen begleiten die tägliche Arbeit der linguistischen Gesetzesredaktion im und am Deutschen Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV)? Wie nehmen verschiedene Gruppen von RezipientInnen Vorschriften des Bundes wahr, die im Rahmen einer solchen Gesetzesredaktion überarbeitet wurden? Diese Fragen waren Gegenstand eines 18-monatigen rechtslinguistischen Forschungsprojektes (2019-2021) zur Evaluation der gesetzesredaktionellen Praxis auf Bundesebene im Auftrag des BMJV unter der Leitung von Friedemann Vogel (Universität Siegen) und Ekkehard Felder (Universität Heidelberg) sowie in Zusammenarbeit mit Janine Luth (Universität Heidelberg), Fabian Deus und Joline Schmallenbach (beide Universität Siegen).

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Die Gesetzes- und Verordnungsentwürfe aller Bundesministerien durchlaufen eine rechtsförmliche und rechtssystematische Prüfung im BMJV. In diesem Rahmen findet auch eine Gesetzesredaktion und Sprachberatung statt, die für die hauseigenen Entwürfe des BMJV durch das „Sprachbüro“ und für alle weiteren Ministerien durch den „Redaktionsstab Rechtssprache“ realisiert wird. Der Auftrag dieser beiden Arbeitsbereiche ist in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien verankert (§ 46 GGO). Gesetzesentwürfe müssen demnach „sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich gefasst“ sein (§ 42 Absatz 5 GGO). Das im Folgenden schlaglichtartig zusammengefasste Forschungsprojekt ging in insgesamt drei Teilprojekten der Frage nach, inwiefern die gesetzesredaktionelle Praxis diesem Anspruch gerecht werden kann (ausführliche Dokumentation der Studie: Vogel et al. 2022 im Druck).

Teil-projekt

Arbeitsschritte / Methoden

Leitfragen

I

Entwicklung eines holistischen Kriterienmodells zur Beurteilung der Verständlichkeit von Normtext(entwürf)en

  • Wie lassen sich textbezogene und kontextbezogene Verständlichkeitsfaktoren in ein kohärentes, für die Besonderheiten der rechtlichen Normgenese geeignetes Modell zusammenführen?

  • Wie können prototypische Gruppen von Normtext-AdressatInnen mit divergierenden fachlichen Wissenshintergründen differenziert werden, damit sie für die Gesetzesredaktion eine Orientierung stiften können?

II

Detaillierte qualitative Fallstudienanalyse von vier vollständigen Rechtsetzungsverfahren im BMJV

  • Welche Erwägungen, Ziele und arbeitsorganisatorischen Strukturen liegen der gesetzesredaktionellen Arbeit zugrunde?

  • Inwiefern ermöglichen die Ergebnisse quantifizierender Analysen einen repräsentativen Einblick in die alltägliche Gesetzesredaktion?

  • An welcher Stelle und in welchem Umfang spielen die in Teilprojekt I entwickelten Kriterien zur Beurteilung der Verständlichkeit von Norm­text(entwürf)en in der Praxis eine Rolle?

Qualitative Textanalyse von 50 redaktionell bearbeiteten Normtextentwürfen

Quantifizierende statistische und korpuslinguistische Analyse redaktioneller Textarbeit

Experteninterviews mit GesetzesredakteurInnen

  • Aus welchem Erfahrungswissen speisen sich gesetzesredaktionelle Interventionen?

  • Welche externen Wissensressourcen werden herangezogen?

III

Online-Befragung unterschiedlicher Rezipientengruppen zu redaktionell bearbeiteten Normtexten (Pilotstudie)

  • Gibt es zwischen unbearbeiteten und bearbeiteten Textfassungen einen Unterschied in der rezipientenseitigen Wahrnehmung?

  • Welche sprachlichen und textuellen Merkmale dienen den Befragten als effektive Lesbarkeitshinweise?

  • Welchen Einfluss haben soziodemographische Faktoren und verschiedene Wissensbestände der Befragten auf die empfundene Textverständlichkeit?

  • Welche Kontextualisierungsressourcen ziehen die Befragten bei der Arbeit mit Normtexten heran?

Experteninterviews mit ministeriellen LegistInnen

  • Wie werden sprachliche Eigenschaften und Qualitäten von redigierten und unredigierten Texten von AuftraggeberInnen der Gesetzesredaktion eingeschätzt?

  • Wie werden formale Rahmenbedingungen und praktisch vollzogene Arbeitsabläufe der Zusammenarbeit involvierter Gruppen reflektiert?

Tabelle 1: Projektüberblick und empirische Leitfragen der Studie

 

2 Holistisches Kriterienmodell zur Beurteilung der Verständlichkeit von Normtext(entwürf)en (Teilprojekt I)

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Das Thema (mangelhafte) Verständlichkeit von Rechtsvorschriften füllt mittlerweile ganze Regalwände. Für die typischerweise entweder in feuilletonistisch-humorvollem oder empirisch-wissenschaftlichem Stil verfassten Beiträge des interdisziplinären Fachdiskurses über (un)verständliche Gesetzessprache ist eine prodemokratische Grundhaltung charakteristisch; es findet ein generelles Abwägen der Pro- und Kontra-Argumente statt, gelegentlich empirisch gestützt durch punktuelle und eher explorative Korpusstudien. Verwiesen wird nicht selten auf einen Mangel an systematischer, „echt“ interdisziplinärer Verständlichkeitsforschung und auf die mangelhafte Eignung existierender sprachwissenschaftlicher Modelle für die Anwendung auf Spezifika der Textsorte Gesetz. Im angelsächsischen Raum versammelt sich das Bemühen um eine klare und verständliche(re) Rechtssprache bekanntlich unter dem Label „Plain Language Movement“ (manchmal auch „Plain English Movement“). Hintergrund sind bis in die Aufklärung zurückreichende Initiativen, Texte der Rechtssphäre für juristische Laien/Laiinnen leichter zugänglich zu machen. Die Initiativen haben eine umfangreiche Ratgeberliteratur hervorgebracht, die (meist unspezifische) Hinweise zu möglichen Testverfahren der Verständlichkeitsmessung geben, ihre tatsächliche Berücksichtigung in der Verwaltungspraxis ist jedoch ungewiss. Außerdem fehlt es in den zahlreichen Guidelines oft an einer kommunikationstheoretischen und rechtslinguistischen Fundierung sowie an einer hinreichenden Erprobung auf Eignung in der Praxis. Entsprechend werden „Plain Language“-Initiativen kritisiert, Verständlichkeit und ihre Optimierung als überwiegend rein sprach- bzw. textstrukturelles Oberflächenphänomen zu behandeln und pragmatische (v.a. situative) Einflussfaktoren auszublenden (vgl. etwa Ződi/Scerne 2019).

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Vor diesem Hintergrund wurde im vorliegenden Projekt ein holistisches Kriterienmodell zur Beurteilung der Verständlichkeit von Normtext(entwürf)en erarbeitet, das an die kognitionslinguistische und pragmatische Text- und (rechtslinguistische) Fachkommunikationsforschung (insb. Christmann/Groeben 1996, Busse 1992, Schendera 2004) anschließt und zugleich praxiserprobte Arbeitsleitfäden berücksichtigt (vgl. Lutz 2015). Kern dieses Ansatzes ist ein pragmatisch orientierter Begriff von Textverständlichkeit, der mit Heringer (1984) vier Komponenten zugrunde legt: Textproduzenten mit Annahmen über Textadressaten und weitere Textrezipienten; Textrezipienten und Textadressaten mit spezifischen Erwartungen, Fähigkeiten; Text mit seiner spezifischen Struktur; räumlich-zeitliche, mediale u.a. Bedingungen der Kommunikation.

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Der Begriff der „Textverständlichkeit“ ist hier ein heuristischer und relationaler Begriff: Das Verstehen (und Produzieren) von Texten ist grundsätzlich ein dynamischer und aktiver Prozess des (antizipierten) „Sinnvoll-Machens“ (Hörmann 1980) sprachlicher Äußerungen unter Heranziehung komplexen Vorwissens (Textmusterwissen und Gegenstandswissen) sowie situativ nutzbarer Kontextualisierungsressourcen (andere konkretisierende Texte, Ratgebende im Gespräch u.a.).

"Der Grad an Verständlichkeit von Texten lässt sich entsprechend nicht absolut bestimmen, sondern immer nur in Abhängigkeit von tatsächlichen oder prototypisch antizipierten Rezipientengruppen und deren Fähigkeit, durch ein (mit den TextproduzentInnen) geteiltes Text- und Weltwissen und/oder Möglichkeiten zur Kompensation von Wissenslücken einen ähnlichen Textsinn zu rekonstruieren und funktional angemessen (d.h. im Sinne der ProduzentInnen problemlösend) anwenden zu können."
(Vogel et al. 2022 im Druck)

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Mit Blick auf die Gattung der Normtexte ist der Verständlichkeitsbegriff zu spezifizieren: Normtexte sind „durch institutionalisierte Verfahren in Geltung gesetzte Vorschriften“ (Vogel et al. 2022 im Druck). Sie zielen nicht darauf, alle möglichen Lebenslagen zu erfassen und zu normieren (das ist sprachökonomisch auch gar nicht möglich). Normtexte eröffnen und begrenzen im besten Fall einen interpretativen Deutungsrahmen für seine fallspezifische Konkretisierung in der Praxis, sie bieten also einen rechtsstaatlichen Rahmen für die Gestaltung gesellschaftlicher Handlungsordnungen.

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vergrößern:
Abbildung 1: Kriterienmodell (aus Vogel et al. 2022 im Druck)

3 Normtext(entwürf)e aus gesetzesredaktioneller Perspektive: Empirische Typisierung von Verständlichkeitskriterien (Teilprojekt II)

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Gegenstand des zweiten Teilprojektes war die empirische Erfassung, Beschreibung und theoretische Einordnung der prototypischen Praktiken, Expertisen und Herausforderungen in der Gesetzesredaktion von Sprachbüro und Redaktionsstab Rechtssprache. Hierzu wurde unter anderem eine Zufallsstichprobe von 50 redaktionell bearbeiteten Normtexten mithilfe inhaltsanalytischer und korpuslinguistischer Methoden quantitativ ausgewertet.

Abbildung 2 zeigt beispielhaft einen Änderungseingriff der Gesetzesredaktion, der mehrere häufig auftretende Änderungstypen in einem Korrekturvorgang realisiert: Eine Änderung der Informationsstruktur wird durch das Vorziehen der Präpositionalphrase mit für erreicht. Zudem wird durch die zusätzliche Satzgrenze eine klarere thematische Gliederung der Regelungsinhalte auch auf syntaktischer Ebene realisiert, was zugleich mit einer leserfreundlichen Reduktion der Satzlänge einhergeht.

(1) Für die Besetzung der Kommission für Kinoförderung schlagen Ddie im Verwaltungsrat vertretenen Verbände der Kinowirtschaft schlagen insgesamt mindestens zehn Personen vor. für die Besetzung der Kommission für Kinoförderung vor, wobei die von einemEin Verband muss jeweils genauso viele Frauen und Männer vorschlagen. vorgeschlagenen Personen zu gleichen Teilen Frauen und Männer sein müssen.

Abbildung 2: Änderungsvorschlag der Gesetzesredaktion im Entwurfsdokument.

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Mehr als 11.000 Änderungsvorschläge konnten so retrospektiv rekonstruiert, inhaltsanalytisch kategorisiert und statistisch ausgewertet werden. Nach Systemebenen grob kategorisiert ergibt sich für das gesamte Datenmaterial die Verteilung in Abbildung 3.1

Abbildung 3: Änderungsvorschläge nach Systemebenen; absolute und gerundete relative Frequenzen

Den größten Teil der redaktionellen Eingriffe machen Änderungen der Syntax bzw. strukturierende Eingriffe auf Satzebene aus. Eingriffe, die mehrere Sätze oder ganze Textabschnitte betreffen, sind ebenfalls sehr häufig. Änderungen des Vokabulars und Änderungen, die (kontextuelles) Wissen mit dem Text in Beziehung setzen, machen jeweils rund 10% aller redaktionellen Eingriffe aus. Seltener treten rein formale Korrekturen der Orthographie oder Interpunktion sowie Änderungen von intertextuellen Verweisen und Beziehungen auf. Im Detail betrachtet erweisen sich unter anderem folgende Änderungshandlungen als besonders relevant für die redaktionelle Praxis: Die Lexik der Normtexte wird insbesondere auf terminologische Konstanz innerhalb des Textes, aber auch im Hinblick auf Texte desselben Rechtsgebietes, und auf semantische Präzision überprüft. Auf syntaktischer Ebene werden häufig Hypotaxen aufgelöst; als besonders handlungsleitend erweist sich hierbei der Leitsatz, unterschiedliche Regelungsgedanken auch in separaten Sätzen zu formulieren. Referenzstrukturen und syntaktisch-logische Verknüpfungen, realisiert etwa durch Pronomina, Adverbien oder Konjunktionen, werden präzisiert. Nicht selten sind auch tiefergehende Eingriffe in die Textstruktur und -organisation, wenn etwa Paragraphen oder Absätze neu gegliedert werden, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen oder die logisch-thematische Progression der Regelungsinhalte besser in der Textstruktur abzubilden. Insgesamt 34 solcher Änderungstypen wurden induktiv kategorisiert und in Abhängigkeit von verschiedenen Variablen betrachtet. Dazu gehörten unter anderem die Rechtsart (Stammrecht vs. Änderungsrecht) und der Arbeitsbereich (Sprachbüro vs. Redaktionsstab Rechtssprache).

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Die Stichprobe von 50 redigierten Normtexten wurde ferner mithilfe korpuslinguistischer und stilometrischer Verfahren quantitativ ausgewertet: Welche Folgen haben die gesetzesredaktionellen Bearbeitungsvorschläge auf die Verwendungshäufigkeit von ausgewählten grammatischen Einheiten, insbesondere auf der Ebene der Wortarten bzw. der Syntagmen? – Diese Frage lässt sich annäherungsweise auf Basis eines korpuslinguistischen Vergleichs der Part-of-Speech (POS)-annotierten Teilkorpora beantworten, indem POS-Uni- und Bigramme der unredigierten Fassungen (Korpus K50Npre-A) mit denen der redigierten Fassungen (Korpus K50Npost-A) kontrastiert werden. Dabei werden besonders jene Einheiten sichtbar, die in einem statistischen Sinne besonders typisch sind für das eine Teilkorpus und zugleich untypisch für das andere Teilkorpus. Die Ergebnisse dieser quantifizierenden Analyse bestätigen qualitative Hypothesen: Die redigierten Texte enthalten im Vergleich zu den Rohfassungen signifikant mehr Relativsatzkonstruktionen und Passiv-Konstruktionen, zugleich weniger nebenordnende Konjunktionen (und, sowie, oder) und damit weniger syntaktisch komplexe Sätze. Auch die erfolgreiche Vermeidung komplexer Nominal- und Präpositionalphrasen (z.B. die[art] für[appr] die[art] Vergabeentscheidung[nn] erforderlichen[adja] ergänzenden[adja]) zeigt sich in den redigierten Textfassungen sehr deutlich.

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Die qualitative und quantifizierende Analyse der hier herangezogenen Rechtssetzungsvorgänge bzw. Normtext(entwürf)e erlaubte erste Schlussfolgerungen bzw. Thesen zur Praxis der evaluierten Gesetzesredaktion(en):

  1. Der Umfang berücksichtigter Kriterien wie auch die analytische Tiefe sind abhängig von einer Vielzahl an Kontextvariablen, auf die die RedakteurInnen keinen oder nur bedingten Einfluss haben, etwa die Rechtsform (Stamm- vs. Änderungsrecht) oder Zeitpunkt und Dauer der Einbindung im Verfahren.

  2. Sowohl aus der qualitativen Datenanalyse heraus (kommentarlose Nicht-Berücksichtigung von Vorschlägen bei verschiedenen Beteiligungsrunden) als auch in der berichteten Wahrnehmung der RedakteurInnen (die im Rahmen von Gruppendiskussionen eruiert wurde) wird ein Mangel an institutioneller Verbindlichkeit für eine bereichsübergreifende Kommunikation zwischen RedakteurInnen und LegistInnen sowie für die Berücksichtigung von gesetzesredaktionellen Rückmeldungen bzw. Überarbeitungsvorschlägen im weiteren Gesetzgebungsprozess erkennbar. Insbesondere ist hier auf die mehrfach herausgestellte Bedeutung von Besprechungen für die Redaktion von Gesetzen hinzuweisen, die häufig, aber nicht immer durchgeführt werden und nicht verbindlich im Prozess verankert sind.

  3. Die gesetzesredaktionellen Vorschläge sind in der Mehrzahl der Fälle rechtslinguistisch nachvollziehbar und sinnvoll. Zugleich findet sich eine teilweise große Heterogenität der Verfahren und Praktiken, in der Heranziehung von Orientierungsmedien (Hilfsmitteln) sowie externer Fachexpertise sowohl zwischen als auch innerhalb der Arbeitsbereiche, eine Heterogenität, die auch, aber nicht immer, aus fall- oder vorgangsspezifischen Besonderheiten heraus erklärbar ist. Die Qualität der Gesetzesredaktion könnte weiter gewinnen von einer stärkeren Systematisierung der redaktionellen Arbeit und Kommunikation entlang bestimmter bereichsübergreifender Kriterien für eine adressatenorientierte Textoptimierung.

 

 

4 Die Rezeption von gesetzesredaktionell bearbeiteten Normtext(entwürf)en (Teilprojekt III)

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Das abschließende dritte Teilprojekt beschäftigte sich mit der Rezeption von Normtext(entwürf)en durch verschiedene empirisch modellierte Rezipientengruppen. Mittels eines ausführlichen Online-Fragebogens (Bearbeitungsdauer 22 Minuten), der auch konkrete Textbeispiele enthielt, wurde eine heterogen zusammengesetzte Probandengruppe zu ihren bisherigen Erfahrungen mit Normtexten, zu Routinen und Ressourcen zu deren Erschließung und zur Wahrnehmung unterschiedlicher Textversionen befragt. Im Vordergrund stand hierbei die Frage, ob und inwiefern die im Rahmen der Gesetzesredaktion entstandenen redigierten Fassungen von den Befragten (Gesamtzahl n=172) als besser eingeschätzt werden als die unredigierten Versionen.

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Den Kern des Fragebogens bildete eine Kontrastierung von bearbeiteten und unbearbeiteten Versionen einiger Textauszüge, die einer Kontroll- und einer Experimentgruppe vorgelegt und hinsichtlich der Verständlichkeitskriterien Prägnanz, Einfachheit und Gliederung bewertet wurden. Weitere Hinweise auf die Verständlichkeit lieferten Single-Choice-Fragen und Paraphrase-Aufgaben zu den Textabschnitten. Anschließend wurden weitere Bewertungen unter Vorlage eines Versionsvergleiches abgefragt sowie individuelle verständnisfördernde sprachliche Mittel erhoben. Neben diesen textbezogenen Aufgaben wurde auch nach der Verwendung weiterer verständlichkeitsfördernder Ressourcen (z.B. Internet-Recherche, Kommentarliteratur, Wörterbücher, persönliche Kontakte) gefragt und es wurden soziodemografische Angaben zu Ausbildung, Fachwissen und Berufspraxis mit dem Antwortverhalten in Beziehung gesetzt.

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Darüber hinaus wurden im Rahmen des dritten Teilprojektes Experteninterviews mit fünf MitarbeiterInnen des BMJV und anderer Ministerien geführt, die an den analysierten Rechtsetzungsvorgängen als AuftraggeberInnen der Gesetzesredaktion durch Sprachbüro oder Redaktionsstab beteiligt waren.

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Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen die erwartete Tendenz, dass – mit zunehmendem Grad an juristischem Fachwissen – Gesetzestexte als leichter verständlich empfunden werden. Je geringer der Grad der juristischen Expertise ist, desto eher profitieren die RezipientInnen von der redaktionellen Überarbeitung. Interessanterweise zeigen auch die Ergebnisse der Präferenzfragen im direkten Versionsvergleich der Textauszüge, dass Personen mit höherem juristischem Fachwissen die überarbeiteten Fassungen sogar in höherem Maße bevorzugen als Personen mit geringerem juristischem Fachwissen. Diese Beobachtung steht im Gegensatz zu der alltäglichen Annahme, dass vor allem juristische Laien/Laiinnen einfachere Texte bevorzugen, während JuristInnen in ihren Einschätzungen „Genauigkeit“ und „Komplexität“ gegenüber der Verständlichkeit priorisieren. Grundsätzlich profitieren alle Rezipientengruppen (in unterschiedlichen Professionalisierungsstufen) von den redaktionell überarbeiteten Texten.

 

5 Fazit

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Die intensive Zusammenarbeit von linguistischer, fachjuristischer und rechtsförmlicher Expertise ist dazu geeignet, Gesetze verständlicher und damit letztlich sowohl die Rechtssetzung als auch die Rechtspraxis effizienter zu machen. Damit dieser Auftrag gelingen kann, bedarf es jedoch nicht nur ausreichend zeitlicher und personeller Ressourcen, sondern vor allem auch geeigneter institutionalisierter Kommunikationsräume – etwa in Form regelmäßiger, gemeinsamer Briefings. Dieser Bedarf an face-to-face-Begegnungen (also über bloß schriftliche Distanzkommunikation hinaus) wurde von beiden Seiten der Praxis immer wieder betont: nicht nur von Mitgliedern der Gesetzesredaktion, sondern auch von den befragten fachjuristischen LegistInnen. Nur so können Regelungsabsicht, sächliche und juristische Rahmenbedingungen sowie linguistische und förmliche Erwartungshorizonte fallspezifisch aufeinander abgestimmt werden.

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Aus den Analysen wurde allerdings auch deutlich, dass die Adressatenfrage – von allen Beteiligten – expliziter reflektiert und in die Arbeit am Normtext eingebunden werden müsste: welche RezipientInnen zählen zu den prototypischen PrimäradressatInnen einer Vorschrift, welche RezipientInnen kommen praktisch nie oder wenn, dann nur durch Fachleute vermittelt mit dem Normtext in Berührung? Antworten zu diesen Fragen wiederum erfordern auch weitere empirische Forschung zu den tatsächlichen Rezeptions- und Auslegungspraktiken in der Kanzlei, im Gericht, aber auch in der Rathausverwaltung, im Ingenieursbüro oder am heimischen, internetfähigen Computer. Langfristig sollte verfahrenstechnisch darauf hingewirkt werden, dass eine rechtslinguistische, gesetzesredaktionelle Expertise über das gesamte Gesetzgebungsverfahren hinweg kooperativ eingebunden wird. Praxis-Leitfäden zur Verbesserung von Normtexten, wie es sie inzwischen vielfach gibt und auch von LegistInnen nachgefragt werden, sind eine wichtige Hilfe; aber – wie Nussbaumer treffend formuliert hat:

„Der allerbeste Leitfaden nützt wenig, wenn er nicht […] hineinwirken kann in eine Praxis, die eingebettet ist in geeignete institutionelle Rahmenbedingungen und in eine allgemeine Kultur verständlicher Gesetzessprache; nur in einem solchen Rahmen kann die Praxis die guten Ratschläge, von welcher Seite auch immer, aufnehmen und umsetzen.“
(Nussbaumer 2002: 112).

 

6 Abkürzungen

 

nn Substantiv (Part-of-Speech Tag)

adja Adjektiv in attributiver Verwendung (Part-of-Speech Tag)

appr Präposition (Part-of-Speech Tag)

art Artikel (Part-of-Speech Tag)

 

Fußnote

1 Vogel et al. (2022 im Druck) enthält eine ausführlichere Beschreibung der inhaltsanalytischen Kategorisierung sowie das vollständige Codebuch.

 

7 Literaturverzeichnis

 

Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2020). Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien GGO. Berlin. https://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_21072009_O11313012.htm.

Busse, Dietrich (1992). Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen, Niemeyer.

Christmann, Ursula / Groeben, Norbert (1996). Die Rezeption schriftlicher Texte. In: Baurmann, Jürgen / Günther, Hartmut / Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Berlin, New York, De Gruyter. Bd. 2: 1536–1545.

Heringer, Hans Jürgen (1984). “Textverständlichkeit: Leitsätze und Leitfragen“. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), 57-70.

Hörmann, Hans (1980). Der Vorgang des Verstehens. In: Kühlwein, Wolfgang (Hrsg.): Sprache und Verstehen. Kongreßberichte der Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e.V. Tübingen, Narr. 17-29.

Lutz, Benedikt (2015). Verständlichkeitsforschung transdisziplinär. Plädoyer für eine anwenderfreundliche Wissensgesellschaft. Göttingen, Vienna University Press.

Nussbaumer, Markus (2002). “Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es“ - Arbeit an der Verständlichkeit von Gesetzestexten in der Schweizerischen Bundeskanzlei. Journal of Linguistics 29, 111-123.

Schendera, Christian F. G. (2004). Die Verständlichkeit von Rechtstexten: eine kritische Darstellung der Forschungslage. In: Lerch, Kent D. (Hrsg.): Recht verstehen. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht. Berlin, De Gruyter. 321–374.

Vogel, Friedemann / Deus, Fabian / Luth, Janine / Schmallenbach, Joline / Felder, Ekkehard (2022 im Druck). Gesetzesverständlichkeit aus rechtslinguistischer Perspektive. Evaluation der gesetzesredaktorischen Arbeit zur Optimierung von Rechtsvorschriften im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Unter Mitarbeit von Sven Bloching, Lara Neuhauser, Mira Schwarzer und Emma Schmidt (Sprache und Medialität des Rechts). Berlin, Duncker & Humblot.

Ződi, Zsolt / Scerne, Péter (2019). The limits of plain legal language: understanding the comprehensible style in law. International Journal of Law in Context 15 (3), 246-262. DOI: 10.1017/S1744552319000260.

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