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Rezension zu „Französisches und deutsches Verfassungsrecht. Ein Rechtsvergleich“

von Nikolaus Marsch, Yoan Vilain und Mattias Wendel (eds.). Berlin & Heidelberg, Springer 2015.

 

Albrecht Weber

6. September 2016

urn:nbn:de:hbz:38-69213

 


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Das mit Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule geförderte Lehrbuch ist ein Versuch eines „Brückenbaus“ zwischen deutscher und französischer Staatsrechtslehre. In der deutschen wie französischen Verfassungslehre ist die Kenntnis der „benachbarten“ Rechtsordnung von eher randständiger Bedeutung, wenn man von einigen komparatistischen Handbüchern (wie etwa dem Ius Publicum Europaeum, herausgegeben von BOGDANDY / CRUZ VILLALÓN / HUBER) und einigen spezialvergleichenden Studien absieht. Umso verdienstvoller ist das Bemühen der Herausgeber, die Grundstrukturen beider Verfassungsordnungen in einem „integrierten Rechtsvergleich“ gegenüberzustellen und von der herkömmlichen Gliederung nach „Landesberichten“ abzusehen. Dies erfordert ein hohes Maß an Kenntnis beider Rechtsordnungen, die sich – wie das Autorenverzeichnis ausweist – besonders durch Studium bzw. Promotion auch in der jeweils fremden Rechtsordnung am besten gewinnen lässt. Das Werk gliedert sich in neun Abschnitte, die die wesentlichen Elemente und Strukturen der beiden Verfassungen untersuchen. Im Folgenden können nur einige Grundlinien und besondere Aspekte hervorgehoben werden.

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A. Gaillet stellt die verfassungsgeschichtlichen Grundlagen der beiden Verfassungen dar (§ 2), die sie zu Recht als Verfassungsvergleichung im „Raum und in der Zeit“ begreift (S. 8 ff.). Sie arbeitet die großen Entwicklungslinien der verfassungs-geschichtlichen Entwicklung seit der III. und IV. Republik in Frankreich und der Weimarer Verfassung in Deutschland heraus, ohne die das heutige Verfassungsdenken in beiden Ländern nicht hinreichend verstanden werden kann. Es zeigt einerseits notwendige Divergenzen in der stärkeren Betonung der demokratisch-republikanischen Komponente in Frankreich im 19. und 20. Jh. so wie andererseits der rechtstaatlichen Komponente in Deutschland, aber auch zunehmend Konvergenzen auf, insbesondere in der Übernahme rechtstaatlicher Begriffe („Etat de Droit“ ) und Einfluss grundrechtlicher Termini („droits fondamentaux“ teils statt „libertés publiques“ ) aus der deutschen Lehre. Der Vergleich der Reaktionen der Konstituanten des Grundgesetzes wie der Verfassung von 1958 auf die Vorgängerverfassungen zeigt durchaus Parallelen, die in der Stabilisierung parlamentarischer Regime – freilich auch in teils gegenläufigem Sinn – liegt. Häufig unbeachtet bleibt, dass die Weimarer Verfassung für Frankreich durchaus nicht nur als abschreckendes Beispiel für Verfassungsgebung gilt, sondern mit ihrem stark präsidial geprägten Charakter eines parlamentarischen Systems wohl auch als Vorbild bei der Ausarbeitung der französischen Verfassung von 1958 diente; der Präsident als „Hüter“ bzw. neutraler Schiedsrichter über den Parteien ist hierfür ein Beispiel (vgl. auch VILAIN, S. 79; VILAIN / WENDEL, S. 168). Etwas unscharf wird der Begriff der „Verantwortlichkeit“ der parlamentarischen Regime der III. und IV. Republik wie der Weimarer Republik verwendet. Art. 5 Verfassungsgesetz vom 25. Februar 1875 sah ein Recht des Präsidenten zur Auflösung der Abgeordnetenkammer vor, was in der Praxis nach MacMahon nicht mehr ausgeübt wurde, während die Minister nur gemeinsam vor den Kammern für die allgemeine Politik der Regierung verantwortlich sind (Art. 6); eine vergleichbare politische Verantwortlichkeit des Premierministers gegenüber dem Präsidenten wie in der V. Republik (Art. 8 und 9 Verf. 1958) gab es nicht. Interessant erscheint unter verfassungstheoretischem Gesichtspunkt die von der Autorin aufgeworfene Frage, ob nicht Hitlers Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 mit dem Verfassungsgesetz der Vichy-Regierung vom 10. Juli 1940 vergleichbar ist, was unter dem Gesichtspunkt der Übertragung der verfassungsändernden Gewalt auf die Exekutive in Gestalt eines materiell verfassungsändernden Gesetzes durchaus bejaht werden kann (SCHNUR). Die Verfassungsbeschlüsse der Vichy-Regierung No. 2-12 belegen deutlich den Versuch der Legitimation der Beseitigung der Verfassung der IV. Republik im Wege „legaler“ Verfassungsänderung ähnlich wie im Ermächtigungsgesetz Hitlers. Die Verfasserin unterstreicht abschließend zu Recht die Langlebigkeit und Anpassungsfähigkeit des Grundgesetzes (GG) wie der Verfassung von 1958.

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Im 3. Abschnitt behandelt Y. Vilain die Verfassungsprinzipien, die er als Oberbegriff für Fundamentalnormen oder Staatsstrukturprinzipien wählt (S. 45-120). Zu diesen rechnet er den Begriff der „Republik“, den säkularen Verfassungsstaat, die Demokratie als Herrschaftsform, die territoriale Gliederung als „Staatsform“ sowie den Rechtsstaat und den Sozialstaat. Zutreffend arbeitet er den größeren Stellenwert des Begriffs der Republik („république“) in Frankreich im Vergleich zum Begriff des Grundgesetzes heraus, da ersterer auch die in Art. 1 und 2 Französische Verfassung genannten Werte und Prinzipien enthält. Der Autor beschreibt zutreffend die Entwicklung des Laizismusprinzips in Frankreich und des Neutralitätsgrundsatzes als zwei Gegenpolen des modernen Religionsverfassungsrechts, die sich jedoch in der Praxis wegen der zahlreichen Durchbrechungen des Prinzips der „laïcité“ annähern; dies gilt freilich nicht in gleichem Umfang für das Kopftuch in der Schule bzw. der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit (S. 67). Zu beachten ist freilich, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kein striktes Neutralitätsgebot vertritt, sondern „wohlwollende Neutralität“ akzeptiert, also im Rahmen grundrechtlicher Schutzpflichten der positiven Religionsausübung eine Abwägung der Positionen der betroffenen Grundrechtsträger vornimmt und damit durchaus zur Ausübung verschiedener Kulte, z.B. in der Schule, beiträgt, soweit der Staat die Grenze der „Nichtidentifikation“ beachtet. Bei der Auslegung des Demokratieprinzips ergeben sich größere Unterschiede am ehesten in der stärkeren Betonung der plebiszitären Komponenten der französischen Verfassung (Vergleichbarkeit mit der Weimarer Verfassung) wie in dem Verständnis der „wehrhaften Demokratie“, für die das GG ein breites Arsenal an Instrumenten zur Verfügung stellt (S. 75 ff.); die jüngste Debatte einer – nunmehr gescheiterten – Verfassungsänderung als Antwort auf den Terrorismus in Frankreich nach den Anschlägen von Paris und Brüssel belegt dies nachdrücklich. Der wohl wichtigste Unterschied zwischen beiden Verfassungen besteht aber nach wie vor im Verständnis der Aufteilung der territorialen Staatsgewalt, die vom Verfasser mit der Übertitelung „vom zentralisierten Einheitsstaat zum unitarischen Bundesstaat“ (S. 82 ff.) nur unzureichend erfasst wird. Die Dezentralisierung von Legislativkompetenzen in Frankreich beruht wesentlich auf der kolonialen Vorgeschichte („DOM - TOM“) bzw. historischen Besonderheiten (wie der Region Elsass-Mosel) und ist wie legislative Experimentierklauseln nicht ernsthaft mit der Verteilung der Gesetzgebungs- bzw. Verwaltungskompetenzen in Deutschland nach dem Grundgesetz vergleichbar (auch nicht nach der Reform des Art. 72 Abs. 2 und 3 GG). Die Länderautonomie äußert sich trotz „Unitarisierung“ (HESSE; SCHARPF) nach wie vor in der Verfassungs- und Haushaltsautonomie, konkurrierender und eigener Landesgesetzgebungskompetenz, weitgehender Verwaltungsautonomie („Exekutivföderalismus“) und eigener Verfassungsgerichtsbarkeit, die inzwischen flächendeckend in allen Bundesländern existiert und über Organkonflikte wie Grundrechtskataloge judiziert. Es erscheint daher zweckmäßiger, trotz jüngerer Entwicklungstendenzen Frankreich weiterhin als „dezentralisierten Einheitsstaat“ („Etat décentralisé“) zu kennzeichnen im Gegensatz zu regionalisierten Staatsmodellen (z.B. Spanien; Italien) und historisch gewachsenen Bundesstaaten (wie z.B. die Schweiz, Österreich und Deutschland) bzw. bundesstaatlicher Entflechtung „von oben“ wie z.B. Belgien (vgl. WEBER, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010: 343 ff.).

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Im Prinzip des Rechtsstaats („l´Etat de droit“) bündeln sich heute die wesentlichen Errungenschaften der „Herrschaft des Rechts“, die trotz nationaler Eigenheiten und historischer Entwicklung eine wachsende Kongruenz aufweisen, wie auch die Rechtsvergleichung mit Frankreich verdeutlicht. Annäherungen sind besonders im Bereich des Vorrangs des Gesetzes (z.B. autonome Rechtsverordnungen (Art. 80 GG und Art. 37 Französische Verfassung)) und des Gesetzesvorbehalts („réserve de la loi“) erkennbar; die Nähe der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG zur Rechtsprechung des Verfassungsrats zur „negativen Unzuständigkeit“ des Gesetzgebers („competence négative“) ist interessanterweise in zahlreichen Entscheidungen belegbar; in der Judikatur zum Verhältnismäßigkeitsprinzip („proportionnalité“) zeigen sich Annäherungstendenzen, auch wenn der Conseil Constitutionnel (CC) noch zurückhaltender ist (z.B. Vertrauensschutz; S. 109). Die dogmatische Schwäche der Ausformung des „L´Etat social“ als Verfassungsprinzip in Frankreich wird u.a. überzeugend mit der Existenz der sozialen Grundrechte nach der Präambel der französischen Verfassung 1946 wie der Existenz der „services publics“ sowie einer stärkeren richterlichen Zurückhaltung erklärt (S. 112 ff.).

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Den breitesten Raum nimmt die Darstellung der interinstitutionellen Beziehungen zwischen Parlament-Präsident-Regierung nach dem GG und der französischen Verfassung 1958 ein (§ 4: VILAIN / WENDEL) ein, der im Anschluss eine detaillierte Abhandlung über die Rechtsetzung folgt (§ 5 MARSCH). Diese Aufteilung erscheint überzeugend, da es sich bei beiden Modellen um parlamentarische Systeme handelt, auch wenn in Frankreich nach einer – wohl auf Duverger zurückgehenden Terminologie – ein „système semi-présidentiel“ existiere. In der Tat besteht hier – neben der territorialen Aufgliederung der Staatsgewalt – der wohl stärkste Unterschied zwischen beiden Verfassungen, auch wenn sich aufgrund nachhaltiger Reformen in Frankreich seit 2004 auch hier Tendenzen zu einer verstärkten „Parlamentarisierung“ des sog. „parlamentarisme rationnalisé“ erkennen lassen. Dieser spiegelt sich vor allem in der Eindämmung der parlamentarischen Autonomie zugunsten der Gubernative, etwa bei der Einflußnahme der Exekutive auf die parlamentarische Tagesordnung oder der Fiktion der Annahme einer mit der Vertrauensfrage („vote de confiance“) verbundenen Gesetzesvorlage, wenn kein Misstrauensvotum innerhalb von 24 Stunden eingebracht wird (Art. 49 Abs. 3 Französische Verfassung). Hinzu kommt die verfassungsrechtliche Begrenzung der „domaine de la loi“ durch Formen gubernativer Rechtssetzung (VILAIN / WENDEL, S. 204; MARSCH, Rn. 46), etwa in Form der parlamentarischen Ermächtigung zu gesetzesvertretenden Verordnungen (Art. 38: ordonnances), die freilich weitgehend gesetzesakzessorisch (sog. „décrets d´applicatio“) und nicht als autonome Verordnungen ergehen (MARSCH, Rn. 20). Freilich ist hiermit auch häufig eine „Delegalisierung“ nach Stellungnahme des Conseil d´Etat durch Herabstufung nach Art. 37 Abs. 2 Französische Verfassung verbunden, wenn dieser den Verordnungscharakter bestätigt (MARSCH, Rn. 28). Die gubernative Rechtssetzung wird außerdem durch die Begrenzung der Rechtsetzungsermächtigung (Art. 37 Französische Verfassung) durch den Conseil Constitutionnel (vgl. CC 82-143 DC-Blocage des Prix et des revenus u.a.) maßgeblich geprägt und kann als Form „konkurrierender Rechtsetzungsermächtigung“ (so MARSCH, Rn. 19) bezeichnet werden. Die Darstellung zeigt, dass die Verfassungsgeber aus der Vergangenheit durchaus unterschiedliche Schlüsse gezogen haben, um zu einer Stabilisierung des parlamentarischen Systems zu gelangen (MARSCH, Rn. 71). Dies gilt vor allem, wenn man das Verhältnis Präsident-Regierung und Parlament in beiden Systemen betrachtet. In Frankreich verfügt der Präsident über ein starkes Auflösungsrecht (Art. 12 Französische Verfassung) gegenüber der Nationalversammlung und ein rechtlich umfassendes Ermessen (VILAIN / WENDEL, Rn. 192), während der Bundespräsident nur ein begrenztes Auflösungsrecht besitzt (Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG). Allerdings ist die Verfassungsänderung in Frankreich seit 2000 zu beachten, die zu einem Gleichlauf des Mandats („Quinquennat“) mit der Legislaturperiode der Nationalversammlung und damit zu einer Stärkung des parlamentarischen Systems geführt hat und die „Cohabitations“ mittlerweile als eher unwahrscheinlich machen dürfte (ebd. Rn. 192, 197). Man mag sich deshalb die berechtigte Frage stellen, ob heute nach ca. 15 Jahren Verfassungsänderungen und -praxis in Frankreich nicht die Konvergenzen größer sind als die Unterschiede (Rn. ebd.; DIVELLEC, in GREWE / GUSY (eds.), Französisches Staatsdenken, 2002).

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Einen sehr guten Überblick über die Verfassungsgerichtsbarkeit und den Grundrechtsschutz in beiden Ländern bieten die Beiträge von N. Marsch (§ 6 Verfassungsgerichtsbarkeit) und T. Hochmann (§ 7 Grundrechtsschutz), die thematisch hier zusammen behandelt werden sollen. Die Zurückhaltung gegenüber einer gerichtsförmlichen Kontrolle des Gesetzgebers in Frankreich geht noch auf Montesquieus Dictum des„ juge comme la bouche de la loi“ zurück und hat – trotz des kühnen Vorschlags einer „jury constitutionnaire“ unter Siéyès in der französischen Revolutionszeit – bis zur V. Republik fast keine Rolle gespielt; freilich hat auch in Deutschland die verfassungsgerichtliche Kontrolle trotz Vorläufer im Reichskammergericht des Alten Reichs, in Bayern der nachnapoleonischen Epoche sowie im Reichsgericht der Weimarer Zeit seine eigentliche Geburtsstunde erst mit dem GG und seiner Errichtung durch das BVerfG 1951 erlebt. Das unterschiedliche Verständnis des Conseil Constitutionnel (CC) im Verhältnis zum BVerfG spiegelt sich in dem berühmten Ausspruch von Charles Eisenmann – führendem Wegbereiter der Rechtskonzeption Kelsens in Frankreich –, dass der CC „eine auf das Parlament gerichtet Kanone sei“ (MARSCH, Rn. 10). Der CC hat daher 1962 ein im Referendumsweg zustande gekommenes Gesetz nicht überprüft und Verfassungsänderungen bislang wegen der demokratischen Legitimation des Volkssouveräns keiner Kontrolle unterzogen (ebd. Rn. 35). Trotz der verfassungsrechtlichen Zuordnung des BVerfG unter dem Titel „Rechtsprechung“ im GG und der Widmung eines eigenen Abschnittsfür den Verfassungsrat (Art. 56-63 Französische Verfassung) vor der „ordentlichen Gerichtsbarkeit“ hat sich das BVerfG durch frühe Selbstzuschreibung als Verfassungsorgan („Statusdenkschrift“) auf gleicher Höhe mit den anderen Verfassungsorganen verstanden, während der CC seine Position als Gericht und „Hüter der Verfassung“ erst schrittweise erkämpfen musste. Diese Entwicklung, die erst mit der bahnbrechenden Entscheidung von 1971 (CC 71-44 DC-liberté d´association) ihren Aufschwung auch als „Grundrechtsgericht“ nahm, wird eingehend nachgezeichnet. Ein weiterer wesentlicher Schritt zu einer gerichtsförmlichen Kontrolle stellt die 2008 eingeführte konkrete Normenkontrolle („Question prioritaire de constitutionnalité-QPC“) dar, die freilich der Filterfunktion bzw. „Freigabe“ durch die höchsten Gerichte unterworfen bleibt. Insofern wird der Grundrechtsschutz gegenüber der Legislative zwar deutlich gestärkt; wegen des Fehlens einer direkten Verfassungsbeschwerde gegen höchstrichterliche Entscheidungen (MARSCH, Rn. 77) wie ausnahmsweise gegen Gesetze bleibt freilich der grundrechtliche Schutz gegen Grundrechtsverletzungen eingeschränkt; dies wird teilweise durch die sog. Kontrolle der Vertragskonformität (sog. „contrôle de conventionnalité“) durch den Richter kompensiert, während dies in Deutschland aufgrund der Judikatur des BVerfG nur eine beschränkte, wenngleich wachsende Rolle spielt. Die Wertung der „QPC“ als „indirekte Verfassungsbeschwerde“ (PFERSMANN) erscheint allenfalls aus funktionalen Gründen haltbar; in der Terminologie der Verfassungsgerichtsbarkeit sollte eine Beschwerde nur dann als „indirekt“ bezeichnet werden, die sich mittelbar gegen Gesetzesbestimmungen aufgrund eines gegen den Beschwerdeführer ergangenen letztinstanzlichen Urteils richtet (vgl. WEBER in STARCK / WEBER, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa; Bd. I, 2. Auflage 2007 Generalbericht, S. 348); es liegt auch keine „Rechtssatzbeschwerde“ wie z.B. in Russland, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, oder konkrete Normenprüfung wie in Portugal vor (WEBER, ebd., S. 326), sodass die „QPC“ derzeit ein gewisses Unikat darstellen dürfte. Die deutlich schwächere Ausbildung der Grundrechtsdogmatik in Frankreich und die geringere Rolle des CC lassen sich in den meisten Verfassungsrechtslehrbüchern in Frankreich wie in den Vorlesungsmaterialien leicht erkennen, auch wenn aufgrund der Rechtsvergleichung mit dem deutschen Verfassungsrecht (z.B. FROMONT, GREWE, JOUANJAN) zunehmend dogmatische Konvergenzen zu verzeichnen sind. Als Beispiele sind etwa die verfassungskonforme Auslegung, die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte und die – teils damit begründete – „Drittwirkung“ (sog. „effet direct entre personnes privés“), die Grundrechtsträgerschaft (allerdings mit Einschränkungen für öffentliche Personen in Deutschland) zu nennen. Die Unterscheidung zwischen „béneficiaire“ und „titulaire“ (HOCHBAUM, Rn. 30) dürfte am ehesten mit der „Grundrechtsträgerschaft“ und der „Beschwerdebefugnis“ in Deutschland zu vergleichen sein. Man mag dem Autor darin zustimmen, dass sich in Frankreich die Verfassungsdogmatik überwiegend in einem rechtspositivistischen Sinne entwickelt hat, so dass Anstöße eher von dem CC zu erwarten sind; für Deutschland dürfte dies aufgrund der ziselierten Grundrechtsdogmatik eher umgekehrt sein (HOCHBAUM, Rn. 94).

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Eine ebenfalls kompakte und rechtsvergleichend tiefgehende Untersuchung bietet Wendel über die Internationalisierung und Europäisierung der Verfassungen (§ 8: Verfassungsrecht-Völkerrecht-Europarecht). Ausgehend von einem zunehmend vertretenen „Verfassungs- bzw. Rechtspluralismus“ statt herkömmlicher Einteilung in Monismus und Dualismus der Rechtsordnungen sowie der maßgeblichen Unterscheidung zwischen unmittelbarer Geltung („Normexistenz“) und unmittelbarer Anwendbarkeit („effet direct“), die sich aus der normstrukturellen Bestimmtheit ergibt, untersucht er die Stellung des Völkerrechts einerseits sowie des Europarechts andererseits in den innerstaatlichen Rechtsordnungen. Erstere wird in Frankreich an der Kontrolle der Vertragskonformität, insbesondere der EMRK, festgemacht („contrôle de conventionnalité“ s.o.), während in Deutschland die EMRK eine „Orientierungs-und Leitfunktion“ innehat, der das BVerfG mitunter nur widerwillig folgt (Görgulu I; anders aber nachträgliche Sicherungsverwahrung II). Die Stellung des Europarechts im innerstaatlichen Recht fokussiert der Autor zutreffend auf die Frage der Kontrolle von ultra-vires Akten und der Verfassungsidentität durch die beiden höchsten Gerichte. Hier zeigen sich – zwar vom Grundmodell einer „dynamischen Integrationsermächtigung“ in Deutschland und einer eher „statischen Integrationsermächtigung“ in Frankreich ausgehend und trotz der Zurückhaltung des CC der Kontrolle von Verfassungsänderungen, die lediglich zu zahlreichen punktuellen Anpassungen der Verfassung („révision-adjonction“) führt – doch gewisse Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede hinsichtlich der substantiellen Verfassungskontrolle (CC: “Conditions essentielles de l´exercice de la souveraineté nationale“); freilich hat die Lissabon-Entscheidung des BverfG die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG hinsichtlich der dem „souveränen Staat“ vorbehaltenen Kompetenzbereiche überinterpretiert, wie der Verfasser zu Recht anmerkt (Rn. 42 ff.). Vergleichbar sind auch die parlamentarischen Beteiligungsrechte, während die föderativen Mitwirkungsmöglichkeiten unter dem Konzept der „gesamtstaatlichen Integrationsverantwortung“ des BVerfG zusätzliche Hürden verursachen. So gesehen ist die paradox klingende Feststellung nachvollziehbar, dass in der Bundesrepublik die föderative Struktur i.V.m. der weitausgreifenden Kontrolle durch das BVerfG für das Hineinwachsen in einen „Bundesstaat“ unüberwindbare Schranken im Gegensatz zu Frankreich zieht, die nur eine Verfassungs(neu)gebung nach Art. 146 GG überwinden kann (Rn. 117).

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In dem abschließenden Ausblick konstatiert Gaillet eine ausreichende Stabilität der beiden Verfassungsordnungen von 1949 bzw. 1958, die sich durch bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit auszeichnen (24 Verfassungsänderungen in Frankreich im Vergleich zu 59 in der Bundesrepublik). Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass in Frankreich der Wunsch nach einer grundlegenden Reform des „Systems“ zu spüren ist, der auch die Verfassungsinsitutionen in Mitleidenschaft ziehen könnte. Die wiederholt auflebende Debatte um eine „VI. Republik“ scheint dafür ein untrügliches Zeichen (Rn. 13 ff.) zu sein. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht die Unzufriedenheit weiterer Bevölkerungsteile mit der „politischen Klasse“ in Frankreich tiefgreifender ist als in Deutschland und mittelbar auf die verfassungsrechtlichen Institutionen zurückwirkt. Daher trifft der Satz von Gauchet viel treffender das Dilemma der Legitimation auch „ambivalenter“ Verfassungstexte: „Rien ne garantit, après tout, que la société démocratique doive automatiquement fabriquer les personnalités dont la politique démocratique aurait besoin“ (La Democratie contre elle-même, 2002, S. XX (Vorwort); zitiert nach GAILLET, S. 451).

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Alles in allem: Das deutsch-französische Gemeinschaftswerk bietet einen hervorragenden Einstieg in das jeweilige Verfassungsrecht wie auch Praxis unter komparatistischem Blickwinkel, der nicht nur den deutschen Studierenden und Lehrenden empfohlen werden kann, sondern auch auf französischer Seite zur Verfassungsvergleichung Verwendung finden kann. Lobenswert ist der von den Herausgebern gewählte „integrierte Verfassungsvergleich“, der durchaus unter funktional-äquivalenter Perspektive einen komparatistischen „Mehrwert“ unter Einbeziehung historischer Hintergründe und Traditionen erbringt, ohne die eine funktional-kontextuelle Vergleichung wirklichkeitsfremd wäre.

 


Nikolaus Marsch, Yoan Vilain und Mattias Wendel (eds.)
Französisches und deutsches Verfassungsrecht. Ein Rechtsvergleich.
Berlin& Heidelberg, Springer 2015. ISBN: 978-3-642-45053