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Die europäische Rechtsgemeinschaft
 vor den Herausforderungen 
von Vertiefung und Erweiterung

 

Thomas von Danwitz

1. Juni 2010

urn:nbn:de:hbz:38-75204

 


Der Vortrag ist als MP3-Datei und als Open Access PDF Download from USB Journals, Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik verfügbar.



 

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Sehr verehrte Damen, meine Herren,

ich freue mich sehr, auf Einladung von Frau Kollegin Burr und Herrn Kollegen Kempen heute mit Ihnen über die Aufgabe des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften bei der Entwicklung der europäischen Rechtsgemeinschaft zu sprechen. Ich danke Frau Burr ganz herzlich für ihre freundliche Begrüßung und die Gelegenheit, Ihnen dieses Thema zum 50-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge näher bringen zu dürfen.

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Europa, so scheint mir, ist wieder einmal auf der Suche nach seiner Seele, aber unter Rahmenbedingungen, die schwieriger sind als jemals zuvor. Vor allem, und dies gilt für viele Gründungsländer der Europäischen Gemeinschaft, fehlt es an Befürwortern einer Vertiefung der europäischen Integration. Insbesondere scheint aber die Vorstellung der Vertiefung nicht mehr auszureichen, um die Öffentlichkeit von Europa zu überzeugen und für Europa zu begeistern. Man muss sich daher die Frage stellen, ob auch heute noch die überkommene Logik der bisherigen Integrationsgeschichte gilt, dass die Verwirklichung des nächsten Gemeinschaftsprojektes die Zustimmung der Bevölkerung finden wird. Mehr und mehr gleichen die offiziellen Erklärungen über die Notwendigkeit des nächsten Integrationsschrittes einer unüberlegten Flucht nach vorne. Die Menschen fragen uns, warum es überhaupt solch großer Projekte bedarf. Und sie fragen uns, welches Projekt auf die Verfassung folgen soll. Tatsächlich kann man sich fragen, ob diese großen Projekte wirklich so unverzichtbar sind, wie die politische Klasse es meint. Jedenfalls scheint die Öffentlichkeit weniger denn je an der Jagd nach Prestigeprojekten interessiert zu sein, wenn sie sich ohne wirkliche Vorteile für Europa und die europäischen Bürger darstellt.

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Der einstweilige Misserfolg des Verfassungsvertrages zeigt uns, dass selbst ein Vorhaben, das so positiv und nützlich für den Fortgang der Integration ist und überdies wohl ausgewogen erscheint, die Hürde der Ratifikation durch Referendum nicht zu nehmen vermag, wenn die Bürger von der besonderen Nützlichkeit einer vorgeschlagenen Intensivierung der Integration nicht überzeugt sind. Heutzutage ist die europäische Integration vielmehr zu einer Realität des alltäglichen Lebens geworden, so dass die europäischen Bürger mehr und mehr nach einer konkreten Rechtfertigung des Gemeinschaftshandelns, nach einem spezifischen Mehrwert verlangen. Dieser ergibt sich nicht mehr aus der bloßen Überwindung der eigenen Staatlichkeit und der Herstellung von Gemeinsamkeit. Vielmehr wollen die Bürger durch die besondere Qualität der Maßnahmen überzeugt werden, die von den europäischen Institutionen getroffen werden.

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In diesem Sinne ist die Initiative der Europäischen Kommission, das Vertrauen der Bürger durch konkrete Resultate der Gemeinschaftspolitiken zurückzugewinnen, in meinen Augen sehr wohl gerechtfertigt. Der Mehrwert des Gemeinschaftshandelns zeigt sich indes nicht durch Maßnahmen, die jedermann zu gefallen versuchen, sondern durch eine Verwirklichung der politischen Ziele, die seit langem öffentlich erklärt worden sind. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass die Agenda von Lissabon weder verwirklicht wurde noch bereits ausgeschöpft ist. Insbesondere ist Europa noch weit davon entfernt, die wettbewerbsfähigste Wirtschaftszone der Welt zu werden. Darüber hinaus wäre es dringend notwendig, die ewigen Reformen der europäischen Landwirtschaftspolitik überzeugend zu verwirklichen, die unterschiedlichen Haltungen zum Gemeinschaftshaushalt auszugleichen und überzeugende Prioritäten für die Mittelvergabe der Strukturfonds zu erarbeiten, um so die praktische Nützlichkeit der europäischen Institutionen und den Wert ihres Handelns in den Augen der europäischen Bürger unter Beweis zu stellen.

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Vor allem aber zeigt der politische Immobilismus, der namentlich in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht in unseren Gesellschaften um sich greift, seine negativen Auswirkungen für die europäische Integration in besonderer Weise. Denn das Fehlen wirtschafts- und sozialpolitischer Initiativen in Europa erklärt eine gewisse Feindseligkeit gegenüber den notwendigen Veränderungen, die von der europäischen Integration ausgelöst werden. Wie kann man dieser Situation entkommen? Wie kann man angesichts der Anforderungen der Globalisierung die politische Initiative in dieser Hinsicht wiedererlangen? Oder haben wir bereits zuviel von unseren Mitbürgern verlangt? Müssen wir die europäische Integration verlangsamen, müssen wir uns mit der Geschwindigkeit begnügen, die uns durch die Bereitschaft der Bürger vorgegeben wird, Veränderungen anzunehmen, die sich regelmäßig als soziale Einschränkungen erweisen?

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In einer historischen Perspektive scheint es nicht wahrscheinlich, dass Europa sich in einer Geschwindigkeit verwirklichen lässt, die nur von rationalen und vor allem von ökonomischen Erwägungen bestimmt wird. Es ist ohne Zweifel notwendig, die wesentlichen Faktoren der unterschiedlichen nationalen und sogar der regionalen Identitäten der Bürger zu respektieren. Aber was macht man, wenn sich diese widersprechen, wie das beispielsweise für die soziale Orientierung der Fall ist, die in vielen Gesellschaften des europäischen Kontinents anerkannt ist? Denn diese Orientierung ist mit der traditionell liberalen Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialordnung unvereinbar, die seit jeher im Vereinigten Königreich und neuerdings in einigen Ländern Mitteleuropas gepflegt wird. Die jüngsten Erfahrungen auf dem europäischen Energiebinnenmarkt haben uns die Gefahren deutlich vor Augen geführt, die sich aus einem sozial motivierten Protektionismus ergeben können. Aber- das scheint mir die zentrale Frage zu sein- lässt die Dynamik der Weltwirtschaft, die ohne eine soziale Orientierung und ohne gemeinsame soziale Grundwerte bleibt, den Europäern die Zeit zur Anpassung?

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Diese Fragen spielen eine besondere Rolle im Prozess der Erweiterung der Europäischen Union. Zwei Jahre nach dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten aus Mitteleuropa und unmittelbar nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens stellt sich die Frage nach einer engagierten Fortführung der Erweiterung vor allem unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten. Zunächst geht es um die Befürchtung, dass die Unterschiede in ökonomischer und sozialer Hinsicht, vor allem aber in Bezug auf die politischen und geistigen Werte, innerhalb der Union zu groß werden und deshalb die Möglichkeiten der Fortführung einer Integration im Geiste echter Supranationalität, die das Niveau einer Freihandelszone übersteigt, erheblich eingeschränkt werden. Zudem geht es um die institutionellen Fragen nach einer Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftseinrichtungen, die mir besonders wichtig erscheint. Wie kann man gewährleisten, dass die Kommission und vor allem der Rat mit mehr als 30 Mitgliedern funktionsfähig bleiben, ohne das Band der demokratischen Legitimation zu trennen, für das die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat einstehen? Wie kann man gewährleisten, dass die Kohärenz der Rechtsprechung des Gerichtshofes angesichts einer solch großen Anzahl von Richtern erhalten bleibt? Dieses politische Panorama zeigt sehr gut, so scheint es mir, dass die Zukunft der gemeinschaftlichen Integration in den Augen der europäischen Bürger heutzutage nicht gerade strahlend erscheinen mag.

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Es versteht sich von selbst, dass die ganz überwiegende Zahl dieser großen Fragestellungen, die schwer auf den Schultern der politisch Verantwortlichen in Europa und besonders auf denen der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 lasten, eine genuin politische Lösung erfordern. Aber, was kann der Europäische Gerichtshof dazu beitragen, dass die Bürger das Vertrauen in die europäische Integration wieder gewinnen? Obwohl der Gerichtshof natürlich keine politische Einrichtung ist und dies auch nicht sein darf, so kann er, meine ich, sehr wohl einen überzeugenden Beitrag dazu leisten, den Bürger mit dem Fortgang und der Vertiefung der europäischen Integration zu versöhnen, indem er die Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung des Vertrages sichert, wie Art. 220 des EG-Vertrages dies statuiert.

Denn die Integration Europas kann nur als Rechtsgemeinschaft gelingen, in der die Mitgliedstaaten zwar Beschränkungen ihrer Souveränität erfahren, aber eine wirksame Teilhabe an den Gestaltungsmöglichkeiten der Europäischen Union erlangen und durch eine effektive Gewährleistung ihrer Rechte geschützt werden. Die Integration soll und darf also nur nach Maßgabe und in den Grenzen des Gemeinschaftsrechts verlaufen, wie es sich aus den Verträgen und dem abgeleiteten Gemeinschaftsrecht ergibt. Daher darf ich Sie zu einigen Überlegungen einladen, die ich über die Aufgabe des Gerichtshofes in verschiedenen Bereichen anstellen möchte.

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Der Gerichtshof hat die ihm vom Vertrag übertragene Aufgabe seit der Aufnahme seiner Tätigkeit im Jahre 1953 stets mit besonderem Engagement erfüllt und aus den mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen eine Gemeinschaftsrechtsordnung entwickelt, die ohnegleichen ist. Besonders beeindruckend sind die prätorischen Rechtsentwicklungen, welche die Integrationsentwicklung maßgeblich beeinflusst haben. Zu nennen sind vor allem die Entwicklung rechtsstaatlicher Prinzipien seit den 50iger Jahren, die Konstitutionalisierung der Gemeinschaftsrechtsordnung durch die Prinzipien von Vorrang und unmittelbarer Wirkung des Gemeinschaftsrechts in den 60er Jahren, die Anerkennung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes und die Erschließung neuer Dimensionen der Grundfreiheiten seit den 70er Jahren. Der berechtigte Stolz auf diese Leistungen, vor allem aber die erfreuliche Integrationsentwicklung, die auf der Grundlage dieser Rechtsprechung erfolgt ist, verpflichtet den Gerichtshof daher zuvörderst, die Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung im Dienste der Integration fortzusetzen. Dies gilt vor allem für die Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung des Binnenmarktes.

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Im Zuge der Erweiterung besteht die erste Herausforderung des Gerichtshofes daher darin, den Integrationsanspruch der Supranationalität nicht aufzugeben. Dazu hat er vor allem die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsinstitutionen und des Binnenmarktes zu gewährleisten. Diese Zielsetzung bedingt in einer erweiterten Union eine Konzentration auf die für die Integrationsentwicklung wesentlichen Rechtsfragen. Als Herausforderung der besonderen Art erweist sich aktuell der Schutz grundrechtlicher Freiheit und die Gewährleistung einer wirksamen Terrorismusbekämpfung auf europäischer Ebene. Der Gerichtshof wird zu echten Grundsatzfragen Farbe bekennen müssen, welche die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung und die grundrechtlichen Anforderungen betreffen, die insoweit an Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung zu stellen sind.

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Im Alltag besteht die ganz überwiegende Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Anwendung und Auslegung von Rechtsakten der Gemeinschaft, die zur Verwirklichung des Binnenmarktes dienen. In diesem Bereich zeichnen sich die Fragen, die uns zur Entscheidung vorgelegt werden, regelmäßig durch eine hohe Technizität aus, die mir als besonders anschauliche Erläuterung des berühmten Bonmots von Jacques Delors erscheint, dass sich niemand in einen Binnenmarkt verlieben könne. Aber selbst wenn die Verwirklichung des Binnenmarktes keine großen Gefühle hervorzurufen vermag, können wir uns unsere Volkswirtschaften ohne den europäischen Binnenmarkt heute gar nicht mehr vorstellen. Es gibt kaum einen mittelständischen Betrieb, der nicht für den Binnenmarkt produziert. Überdies betrifft die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Regeln des Binnenmarktes die Bürger im Alltag in vielfältiger Hinsicht. Tatsächlich ist festzustellen, dass die Gemeinschaftsrechtsetzung zur Verwirklichung des Binnenmarktes eine ganze Bandbreite von Themen erfasst. In meiner täglichen Arbeit am Gerichtshof habe ich seit Oktober bereits verschiedene Rechtssachen zu bearbeiten gehabt, wie die Rechte der Arbeitnehmer im Falle des Betriebsüberganges 1, die Nichtdiskriminierung aufgrund des Alters im Bereich von Beschäftigung und Arbeit 2, die Zuteilung von Sendefrequenzen für die Ausstrahlung von Fernsehveranstaltungen 3 oder schließlich die Probleme der Doppelbesteuerung für die Benutzung des Straßennetzes der Mitgliedstaaten 4 zum Gegenstand hatten.

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Aber unabhängig von der alltäglichen Arbeit ist festzuhalten, dass der Binnenmarkt ungeachtet der feierlichen Erklärung zum 1. Januar 1993 noch keineswegs vollendet ist. Vielmehr muss man die Rechtsangleichungen zur Verwirklichung des Binnenmarktes mit dem Bau einer mittelalterlichen Kathedrale vergleichen: Es handelt sich um Vorhaben, die niemals beendet sein werden. Gegenwärtig gibt es vor allem drei Bereiche, die uns sowohl in der Gemeinschaftsrechtsetzung als auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes besonders beschäftigen.

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Erstens handelt es sich um die Schaffung des Binnenmarktes in den Sektoren der Liberalisierung von Telekommunikations- und Postdienstleistungen, von Transport- und Verkehrsdienstleistungen sowie der Energie. Gleiches gilt aber auch für andere Bereiche, in denen spezifische öffentliche Zielsetzungen von besonderem Gewicht sind.

Insgesamt wird man sagen können, dass die Gemeinschaftspolitik der Liberalisierung zweifelsohne zu positiven und überzeugenden Ergebnissen geführt hat. Die erhebliche Absenkung der Preise im Bereich von Telekommunikationsdienstleistungen trotz Gewährleistung einer angemessenen Qualität zeigt dies deutlich. Aber damit von der Verwirklichung eines Binnenmarktes für Telekommunikationsdienstleistungen gesprochen werden kann, sind noch Maßnahmen erforderlich, um die überhöhten Preise des Roaming im Mobilfunksektor zu senken, wie dies die Kommission vorschlägt. In der Zwischenzeit ist die gemeinschaftliche Rechtsetzung im Telekommunikationsbereich auch Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofes. Durch verschiedene Vorabentscheidungsersuchen, auch und gerade deutscher Gerichte, sind dem Gerichtshof wichtige Fragen zur Entscheidung unterbreitet worden. Dies gilt beispielsweise für die Frage nach dem wirtschaftlichen Charakter der Versteigerung von Frequenzen der dritten Generation 5, ebenso für die Rechtsstellung der Wettbewerber im Verfahren der Marktanalyse 6, für den Anwendungsbereich der Genehmigungsrichtlinie bei der Frequenzvergabe zur Ausstrahlung von Fernsehsendungen 7 sowie und vielleicht vor allem für den Kostenmaßstab des Regulierungsrechts 8 im Telekommunikationssektor.

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Die Politik der Liberalisierung, vor allem im Bereich der Energie, des Verkehrswesens und der Postdienstleistungen, hat namentlich den Besonderheiten Rechnung zu tragen, die in Deutschland üblicherweise mit dem Begriff der Daseinsvorsorge bezeichnet werden. Tatsächlich besteht in diesen Bereichen eine besondere Erwartung der Bürger, wenn es um die Qualität, die Regelmäßigkeit und die Dauerhaftigkeit der Erbringung dieser Dienstleistungen geht. Die Antwort, die das Gemeinschaftsrecht auf diese berechtigten Erwartungen der Bürger gibt, erfolgt durch das Rechtsinstitut der Universaldienste, welche von den mitgliedstaatlichen Leistungserbringern in diesem Bereich angeboten werden müssen.

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Es ist sicher richtig, dass das Ziel eines unverfälschten Wettbewerbs für die Verwirklichung eines Binnenmarktes von zentraler Bedeutung ist und in der Entwicklung der Integration der Gemeinschaft dementsprechend auch eine ganz besondere Rolle gespielt hat. Dies erklärt sich indes aus dem geradezu selbstverständlichen Gesichtspunkt, dass unverfälschte Wettbewerbsbedingungen zur Verwirklichung eines Binnenmarktes ebenso grundlegend und unverzichtbar gehören wie die Beseitigung staatlicher Handelshemmnisse. Aber die in Deutschland traditionell als Daseinsvorsorge bezeichneten Bereiche zeigen uns eindrucksvoll, dass die Zielsetzung der Liberalisierung nicht den einzigen Zweck darstellt, den es zu verwirklichen gilt. Vielmehr ist die Erhaltung und Fortentwicklung eines qualitativ hochwertigen Leistungsangebotes zu erschwinglichen Preisen im Rahmen der Universaldienstleistungen von ebenso grundlegender Bedeutung. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Vorstellung der Verwirklichung von Wettbewerb nicht die einzige Zielsetzung bleibt, die das Gemeinschaftsregime der Liberalisierung in diesen Bereichen bestimmen kann.

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In der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist es daher anerkannt, den Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse eine ganz besondere Bedeutung zuzuerkennen. Insgesamt bezeugt die Rechtsprechung zur Liberalisierung, dass der Gerichtshof eine gewisse Zurückhaltung und Vorsicht obwalten lässt und ein wohl austariertes Gleichgewicht zwischen der Vorstellung der Wettbewerbsförderung durch Liberalisierung und der Gewährleistung der Zielsetzungen der Daseinsvorsorge anstrebt. In Zukunft wird der Gerichtshof zunehmend sicherstellen müssen, dass das in seiner bisherigen Rechtsprechung angelegte Gleichgewicht auch für die konkrete Anwendung der gemeinschaftlichen Regelungen über den Universaldienst erhalten und fortgeschrieben werden wird. Gerade in einem Mitgliedsland wie Frankreich sind solche Rücksichtnahmen erforderlich, um die Zustimmung der Bevölkerung zu weiteren Integrationsschritten gewinnen zu können.

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Ein zweiter großer Bereich der Verwirklichung des Binnenmarktes, in dem sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs seit einigen Jahren erheblich auswirkt, ist die Vereinbarkeit der mitgliedstaatlichen Steuerrechtsregime mit den Grundfreiheiten der Niederlassung und der Kapitalverkehrsfreiheit, wie sie vom Vertrag gewährleistet werden. Der Gerichtshof hat in diesem Bereich eine prätorische Rechtsprechung entwickelt, die eine Neuausrichtung der mitgliedstaatlichen Steuerrechtsregime in einer Weise anstrebt, durch die die Grundfreiheiten des Vertrages gewährleistet werden. Diese grundsätzliche Ausrichtung der Rechtsprechung hat nicht nur erhebliche Kritik von Seiten der Mitgliedstaaten erfahren, sie ist in Einzelfragen sicherlich noch weiter zu führen. Besonders problematisch erscheint vielen die Anwendung der bisherigen Rechtsprechung über die Rückwirkung von Urteilen des Gerichtshofes auf den Bereich des Steuerrechts.

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Insgesamt hat diese Rechtsprechung jedoch deutlich gezeigt, dass die Mitgliedstaaten es seit langer Zeit versäumt haben, die im Vertrag vorgesehenen Möglichkeiten einer Mindestangleichung der Rechtsvorschriften in diesem Bereich zu verwirklichen. Politisch wäre es fraglos vorzugswürdig, wenn die Gemeinschaftsrechtsetzung die vertragskonforme Ausrichtung des Steuerrechts durch Maßnahmen auf Vertragsebene wie im Sekundärrecht angeht. Auf diese Weise kann das Gleichgewicht zwischen den politischen Prioritäten der Gewährleistung innersystematischer wie gemeinschaftlicher Kohärenz und der Beachtung der mitgliedstaatlichen Ertragshoheit einerseits sowie rechtlicher Gewährleistungen der Grundfreiheiten andererseits besser zur Geltung gebracht werden als durch eine Rechtsprechung, die im Wesentlichen auf die Anwendung der Grundfreiheiten verwiesen ist. Angesichts der seit langem von großer Zögerlichkeit geprägten Haltung der Mitgliedstaaten stellt sich jedoch die Frage, ob die erheblichen Unterschiede zwischen den Positionen der verschiedenen Regierungen die Verwirklichung eines so schwierigen Vorhabens noch zulassen. Damit stellt sich im Grunde genommen die Frage, ob die Erweiterung in diesem Bereich bereits dazu geführt hat, die Handlungsfähigkeit des Rates einzuschränken.

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Die besondere Bedeutung der Verwirklichung des Binnenmarktes zeigt sich schließlich in einem dritten Bereich, der die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer im Rahmen des Entsenderechtes betrifft. Auf der Grundlage der Richtlinie 96/71/EG war der Gerichtshof verschiedentlich aufgerufen, die soziale Sicherung dieser Arbeitnehmer im Bereich der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Die vor vierzehn Tagen mündlich verhandelten Rechtssachen Laval 9 und International Transport Union 10 erweisen sich in diesem Bereich als besonders schwierig. In dem Vorabentscheidungsersuchen "Laval" geht es darum, ob die Gemeinschaftsregelungen des Entsenderechtes wie die Grundfreiheiten dem Versuch einer Gewerkschaft entgegenstehen, ein Unternehmen durch eine kollektive Blockade daran zu hindern, seine Dienstleistungen im Rahmen des Entsenderechtes zu erbringen. Nach dem großen öffentlichen Echo, das die Erarbeitung der Dienstleistungsrichtlinie in Deutschland und vor allem in Frankreich gefunden hat, wird dieses Urteil des Gerichtshofs fraglos ein besonderes Interesse finden.

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Der Gerichtshof wird vor allem die Unterschiede der mitgliedstaatlichen Regelungen des Kollektivarbeitsrechtes und ihrer praktischen Anwendung zu beachten haben, die vom Vertrag ausdrücklich gewährleistet werden. Die historischen Erfahrungen mit dem sozialen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sind im Vertrag als zu unterschiedlich angesehen worden, um eine gemeinsame Regelung dieser Fragen auf europäischer Ebene vorzusehen. Daher ist es durchaus bezeichnend, dass die Gemeinschaftskompetenz im Bereich der Sozialpolitik keine Anwendung auf die Vereinigungsfreiheit, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht findet. Für den Gerichtshof stellt sich deshalb die Frage, ob und inwieweit diese Beschränkung der Sozialkompetenz der Gemeinschaft die Auslegung und Anwendung der Bestimmung über die Dienstleistungsfreiheit im Bereich von Entsendemaßnahmen beeinflussen kann und wird. Jedenfalls, so meine ich, zeigt dieser Fall sehr nachdrücklich, dass die Verwirklichung des Binnenmarktes eine zutiefst politische Dimension beinhaltet, die uns allen langfristig eine echte Integrationsleistung abverlangen wird.

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Ein zweiter Bereich der gegenwärtigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, der von großer Bedeutung ist, betrifft die Bereiche, die erst seit relativ kurzer Zeit zu den Integrationsvorhaben der Gemeinschaft gehören. Es geht vor allem um die Verwirklichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die eine ganze Reihe von Rechtsetzungsmaßnahmen notwendig macht, die grundlegend auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhen. Dieses Prinzip ist im Gemeinschaftsrecht im Bereich der Warenverkehrsfreiheit verwurzelt und hat sich seit geraumer Zeit zu einem Eckpfeiler der Zusammenarbeit zwischen den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten entwickelt. In dieser Hinsicht zeigen nun verschiedene Rechtssachen, die beim Gerichtshof anhängig sind, dass das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht die technische Formalität darstellt, für die man es auf den ersten Blick halten könnte.

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Bereits die Auseinandersetzung über den europäischen Haftbefehl, der ebenfalls auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung basiert, hat uns gezeigt, dass die Forderung nach gegenseitiger Anerkennung entscheidend auf dem wechselseitigen Vertrauen in ein wohl geordnetes Rechtssystem zwischen den Mitgliedstaaten beruht. 11 Wie die Diskussion über den europäischen Haftbefehl zwischen dem Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeiten gezeigt hat, ist dieses Vertrauen unter allen Mitgliedstaaten noch nicht generell gewährleistet. Daher sollten sich alle beteiligten Gerichtsbarkeiten mit Umsicht darum bemühen, dass die gegenseitige Anerkennung mit der Entwicklung des gegenseitigen Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Rechtssysteme einhergeht. Gleiches gilt fraglos für Maßnahmen der jeweiligen Regierungen und ihrer Verwaltungsstellen.

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Im Besonderen stellt sich die Frage, ob es nicht ratsam ist, einen juristischen Rahmen zu schaffen, der die Voraussetzungen für die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung festlegt. In dieser Hinsicht wäre es erneut vorzugswürdig, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber solche Anwendungsvoraussetzungen für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und seine Grenzen festlegt. Gegebenenfalls würde schon eine verfahrensrechtliche Einhegung ausreichen, um dieses Ziel zu erreichen. Aber, in Ermangelung einer solchen Gemeinschaftsrechtsetzung könnte sich der Gerichtshof auch an seiner eigenen Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit orientieren, in der er nicht lediglich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung entwickelt hat, sondern auch die Grenzen seiner Anwendung auf den Schutz des Lebens und der menschlichen Gesundheit hervorgehoben hat. Es erscheint mir zumindest denkbar, diese Überlegungen auf den Schutz besonderer Verfassungswerte wie der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit zu übertragen.

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Von großer institutioneller Bedeutung ist sodann eine Rechtsentwicklung, die sich in der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Rechtsgrundlagen und den Rechtshandlungsformen des Unionsrechtes und ihrer Auswirkungen auf das Gemeinschaftsrecht zeigt. Ein Grundsatzproblem besonderer Art stellt sich bei der Auslegung und Anwendung der Rechtsgrundlagen der beiden verschiedenen Vertragswerke über die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft. Dies gilt namentlich für die weit gefassten Handlungsermächtigungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Mit dem Urteil vom 13. September 2005 12 zur Abgrenzung der Umweltkompetenzen von den strafrechtlichen Handlungsbefugnissen hat der Gerichtshof die gemeinschaftliche Umweltkompetenz gegenüber der unionsrechtlichen Handlungsermächtigung für das Strafrecht nachdrücklich gestärkt. Aus methodischer Sicht interessant ist dabei, dass der Gerichtshof sich der allgemeinen Schwerpunktregel bedient hat, um den Anwendungsbereich der beiden Rechtsgrundlagen auch zwischen den jeweiligen Vertragswerken zu bestimmen. Damit hat der Gerichtshof aus meiner Sicht der Gemeinschaft weniger eine Annexkompetenz zuerkannt als vielmehr der These eine deutliche Absage erteilt, dass die Zuständigkeit für das Strafrecht nach dem EG-Vertrag den Mitgliedstaaten allgemein vorbehalten werden soll. Für die Bestimmung der jeweils einschlägigen Kompetenzgrundlage gilt vielmehr die in ständiger Rechtsprechung anerkannte Schwerpunktregel. In der gegenwärtig anhängigen Rechtssache C-440/05 wird der Gerichtshof diesen Fragestellungen weiter nachgehen und seine Position verdeutlichen. Von besonderer Bedeutung und hoher Sensibilität ist die aktuell den Gerichtshof beschäftigende Frage nach der Abgrenzung der Rechtsgrundlagen des Unionsvertrages im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber der Gemeinschaftszuständigkeit für die Entwicklungszusammenarbeit. 13 Da der Gerichtshof insoweit nur über die Unberührtheitsklausel von Artikel 47 des Unionsvertrages entscheidungsbefugt ist, ermöglicht auch diese Rechtssache dem Gerichtshof lediglich, seiner Rechtsprechung eine weitere Entscheidungsfacette hinzuzufügen.

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Von ebenso großer institutioneller Bedeutung ist die weitere Auslegung der Rechtshandlungsformen nach dem Unionsvertrag. Das Urteil in der Rechtssache Pupino14, in der der Gerichtshof die Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des angeglichenen Rechts bestätigt hat, bildet insoweit einen ersten Schritt. Weitergehend stellt sich in der Rechtssache Gestoras Pro-Amnistía 15 die Frage nach den Rechtswirkungen der in Artikel 34 Abs. 2 EU aufgeführten Rechtsakte, gerade im Hinblick auf die eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten nach Artikel 35 EU. Diese Frage stellt sich namentlich für die gemeinsamen Standpunkte, die der Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Artikel 35 EU nicht bzw. nur im Ausnahmefall unterworfen sind. Diese Beispiele zeigen, dass der Gerichtshof vor der schwierigen Aufgabe steht, einen Mittelweg zwischen der Gewährleistung des rechtsstaatlich notwendigen Rechtsschutzes sowie einer klaren Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeiten einerseits und der Respektierung der besonderen Gestaltungs- und Flexibilitätserfordernisse andererseits zu finden, die vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu beachten sind.

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Schließlich möchte ich einen vierten Bereich nennen, in dem die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts den besonderen Wunsch der Mitgliedstaaten zum Ausdruck bringt, sich durch Kompetenzbeschränkungen der Gemeinschaft, die ausdrücklich in das Vertragswerk aufgenommen worden sind, gegen eine als überzogen empfundene Intensivierung und Vertiefung der Integration zu schützen. Verschiedene Aspekte dieser Entwicklung erscheinen mir sogar als Antwort auf eine Rechtsprechung des Gerichtshofs, welche die Besonderheiten der Mitgliedstaaten in starker Weise eingeschränkt hat. Es ist vor allem diese Rechtsprechung, welche die Bezeichnung des Gerichtshofes als Integrationsmotor erklärt. Bis heute ist das Vertrauen in den Gerichtshof ganz überwiegend gewährleistet, jedoch zeigen die vermehrten Vorschläge zugunsten eines Subsidiaritätsgerichtes oder eines Gerichtshofes für Kompetenzkonflikte zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, welcher Herausforderung wir uns heute gegenübersehen: das Vertrauen in den Gerichtshof als unparteiischen und neutralen Richter zu erhalten und, soweit erforderlich, zu erneuern.

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Insbesondere im Hinblick auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeiten muss sichergestellt werden, dass die Zusammenarbeit der Gerichtsbarkeiten in ausgewogener Weise und in einem konstruktiven Geist erfolgt. 16 Der Gerichtshof sieht sich seit einiger Zeit einer Reihe von Urteilen gegenüber, die Vorbehalte gegenüber seiner Rechtsprechung machen und deren Anwendung im mitgliedstaatlichen Recht begrenzen. Sehr deutlich ist dies vom polnischen Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil zu den Beitrittsakten erfolgt. Aber auch unter den Verfassungsgerichtsbarkeiten der Gründungsländer zeigt sich eine größer werdende Zurückhaltung. So hat der französische Verfassungsrat in seinen Entscheidungen vom 27. Juli 17 und vom 30. November 2006 18 betont, dass die Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaften nicht gegen eine Vorschrift oder ein Prinzip verstoßen darf, welches die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs verbürgt.

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Angesichts dieser Entwicklungen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof sich ihm bietende Gelegenheiten sehr wohl wahrgenommen hat, um die Identität der Mitgliedstaaten, ihre Traditionen und die wesentlichen Prinzipien des mitgliedstaatlichen Rechts, denen eine besondere Bedeutung zukommt, zu achten. In dieser Hinsicht kann ich mich darauf beschränken, die Urteile im Bereich der Veranstaltung von Fernsehprogrammen zu nennen, welche die Berechtigung zur Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit zur Sicherung der Meinungsvielfalt und der nationalen Kulturpolitik anerkannt hat. 19 Noch typischer in diesem Bereich erscheint mir das Urteil "Grogan Society for the Unborn Child" über das Abtreibungsrecht in Irland 20 und schließlich das in jüngerer Zeit ergangene Urteil "Omega" 21 über die Gewährleistung einer Befugnis der Mitgliedstaaten, der Menschenwürde gegenüber der Dienstleistungsfreiheit den Vorrang einzuräumen.

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In gleicher Weise haben die Gerichtsbarkeiten der Mitgliedstaaten wesentliche Verpflichtungen des Gemeinschaftsrechts wie den Vorrang und die unmittelbare Wirkung des EG-Rechts akzeptiert und als Gegenleistung dafür den Respekt der Gemeinschaft für wesentliche Bestandteile der mitgliedstaatlichen Rechtskultur eingefordert. Dieses Gleichgewicht ist bereits im Maastricht-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts niedergelegt. Der Ansatz des französischen Verfassungsrates in seiner Entscheidung vom 19. November 2004 22 und des spanischen Verfassungsgerichts vom 13. Dezember 2004 23 über den Verfassungsvertrag scheinen mir auf einer durchaus gleichartigen Grundlage zu beruhen: Es ist nur das Versprechen, die mitgliedstaatliche Identität und ihre wesentlichen Faktoren zu respektieren, so wie sie von den Mitgliedstaaten festgelegt werden, das es den Verfassungsgerichtsbarkeiten gestattet, solch wesentliche Einschränkungen ihrer Souveränitätsrechte hinzunehmen, wie sie mit der Ratifikation des Verfassungsvertrages einhergehen. In diesem Sinne wird das politische Gleichgewicht auf der Ebene des Gemeinschaftsrechtes wie auf der Ebene des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts wiederhergestellt. Diese doppelte Verankerung des Schutzes der mitgliedstaatlichen Identität und sogar der Souveränität der Einzelstaaten im Gemeinschaftsrecht wie im Verfassungsrecht wird von den Gerichtsbarkeiten auf beiden Ebenen im Laufe der Zeit verfolgt und ausgeformt werden.

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Eine Gemeinschaftsrechtsprechung, die von den mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeiten als zu integrationistisch eingeschätzt wird, riskiert sicherlich die unumgängliche Akzeptanz ihrer Rechtsprechung von Seiten der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger. Aber eine Gemeinschaftsrechtsprechung ohne nachhaltige Verwurzelung im Gedanken der Integration läuft Gefahr, die grundlegende historische Bedeutung des europäischen Gemeinschaftswerkes aus dem Auge zu verlieren. Unter den Umständen der Erweiterung besteht die Aufgabe des Gerichtshofes mehr denn je darin, den wohl abgewogenen Ausgleich zwischen einer zentralistischen Flucht nach vorne und einer verhängnisvollen Desintegration der Gemeinschaften zu steuern. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, sollte sich der Gerichtshof stets von den berechtigten Anliegen der europäischen Bürger leiten lassen.

Einzelnachweise

 

1 EuGH, C-458/05, Jouini, Richtlinie 2001/23/CE des Rates vom 12. März 2001, ABl. L 82 vom 22. März 2001, S. 16.

2 EuGH, Rs. C-411/05, Palacio de la Villa, Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303 vom 2. Dezember 2000, S. 16.

3 EuGH, Rs. C-380/05, Centro Europa 7, Richtlinie 2002/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste (Genehmigungsrichtlinie), ABl. L 108 vom 24. April 2002, S. 21.

4 EuGH, Rs. C-392/05, Alevizos, Richtlinie 83/183/EWG über Steuerbefreiungen bei der endgültigen Einfuhr persönlicher Gegenstände durch Privatpersonen aus einem Mitgliedstaat, geändert durch Richtlinie 89/604/EWG vom 23. November 1989, ABl. L 348 vom 29. November 1989, S. 28.

5 EuGH, Rs. C-369/04, Hutchison 3G e.a., anhängig.

6 EuGH, Rs. C-426/05, Tele2 UTA Telecommunication, anhängig.

7 EuGH, Rs. C-380/05, Centro Europa 7, anhängig.

8 EuGH, Rs. C-55/06, Arcor, anhängig.

9 EuGH, Rs. C-341/05, Laval un Partneri, anhängig.

10 EuGH, Rs. C-438/05, The International Transport Workers' Federation et The Finnish Seamen's Union, anhängig.

11 Dazu H.-P. Mansel, „Annerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums" RablesZ, Bd. 70, (2006), S. 651-732 und V.Mitsilegas, „The Constitutional Implications of Mutual Recognition in Criminal Matters in the EU", CMLRev, 43, (2006), S. 1277-1311.

12 EuGH, Urteil vom 13.9.2005, Rs. C-176/03, Kommission/Rat, Slg. 2005, I-07879.

13 EuGH, Rs. C-91/05, Kommission/Rat.

14 EuGH, Urteil vom 16.6.2005, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-05285.

15 EuGH, Rs. C-354/04 P.

16 Urteil vom 11. Mai 2005, K 18/04.

17 Entscheidung Nr. 2006-540 DC, ABl. vom 3. August 2006, S. 11541.

18 Entscheidung Nr. 2006-543 DC, ABl. vom 8. Dezember 2006, S. 18544.

19 EuGH, Urteil vom 25.7.1991, Rs. C-288/89, "Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda", 1991, I- 04007.

20 EuGH, Urteil vom 4.10.1991, Rs. C-159/90, "Grogan", Slg. 1991, I-04685.

21 EuGH, Urteil vom 14.10.2004, Rs. C-36/02, "Omega", Slg. 2004, I-09609.

22 Slg. S. 173, ABl. vom 24.11.2004, S. 19885.

23 DTC 1/2004.